Eine große Zeit
sehr gefährlich. Sehr labil.«
Als ich heute Abend die Büros verließ, hörte ich auf der Straße jemanden meinen Namen rufen: »Rief! Hallo! Hier bin ich!« Ich drehte mich um und sah einen Mann auf der anderen Seite vom Embankment stehen, an die Flussmauer gelehnt. Ich musste erst die Straße überqueren, um Jack Fyfe-Miller zu erkennen – der allerdings wie ein Hafenarbeiter gekleidet war, mit Schirmmütze, Halstuch, Baumwollhose und schweren Stiefeln. Bei der Begrüßung nahm ich ihn fachmännisch in Augenschein.
»Fast perfekt«, sagte ich. »Aber Ihnen fehlt der Dreck unter den Fingernägeln – er müsste auch in die Nagelhaut eingerieben sein. Sie haben die Hände eines Geistlichen.«
»Hier spricht der Experte.«
»Schwarze Stiefelwichse«, riet ich. »Hält den ganzen Tag vor.«
»Wo wollen Sie hin?«, fragte er und starrte mich mit dieser seltsamen Eindringlichkeit an, die für ihn typisch ist.
»In mein Hotel.«
»Ah, das süße Hotelleben. Wenn man es sich leisten kann.«
»Es ist nichts Besonderes. Nur ein kleines Hotel in Pimlico.«
»Haben Sie eine Freundin, Rief?«
»Was? Nein. Es war einmal vor langer Zeit, da hatte ich eine Verlobte … «
»Wenn ich meine Traumfrau finde, heirate ich sie – aber es muss die Richtige sein. Ist schwer zu finden.«
Ich hätte ihm gern zugestimmt, aber ich schwieg, während wir Seite an Seite liefen, Fyfe-Miller offenbar in Gedanken an seine Traumfrau. Ab und zu trat er wie ein trotziger Teenager in das Laub und schrammte dabei mit seinen Nagelschuhen den Pflasterstein, dass die Funken stoben. Wir gingen unter der Eisenbahnbrücke durch, vor mir ragten in der Ferne die schlossartigen Dachtürmchen von Whitehall Court auf. Ich fragte mich, ob Fyfe-Miller von dort gekommen war, und vielleicht rissen ihn der Anblick und die Erinnerung an unser letztes Treffen in diesem Gebäude aus seinen Tagträumen, denn plötzlich hielt er mich fest.
»Was Neues von Andromeda? Irgendeine Spur?«, fragte er abrupt.
»Noch nicht. Aber ich bin wohl ziemlich nah dran.«
»Nah dran, was?« Fyfe-Miller grinste. »Andromeda hart auf den Fersen.«
Nicht zum ersten Mal kamen mir leise Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit.
»Zunächst muss ich die möglichen Verdächtigen einkreisen«, erklärte ich, um Zeit zu gewinnen. »Genau analysieren, wer überhaupt Zugang zu diesen spezifischen Informationen hat.«
»Trödeln Sie nicht zu lange, Rief, sonst macht sich Ihre kostbare Andromeda womöglich aus dem Staub.« Mit diesen Worten nahm er die Mütze ab, verneigte sich spöttisch und machte auf dem Absatz kehrt. Über die Schulter rief er mir noch zu: »Schuhwichse unter den Fingernägeln, das merk ich mir!«
Auf dem Weg zum White Palace dachte ich über seine Ermahnung nach. Im Grunde hatte er recht – allzu viel Zeit konnte ich mir nicht lassen, Vandenbrook dürfte bald Lunte riechen. Hatte ich soeben eine Art Warnschuss abbekommen? Hatten Munro und Massinger Fyfe-Miller befohlen, mehr Druck auf mich auszuüben? Ich kaufte mir die Evening News und las, dass Blanche Blondel bei der gestrigen Premiere von Das Gewissen des Königs im Lyceum stürmischen Beifall erhalten hatte. Blanche – ich könnte ihr eine Nachricht am Bühneneingang hinterlassen … Fyfe-Miller hatte mich ungewollt an sie erinnert, und vielleicht war jetzt der richtige Moment für ein Wiedersehen gekommen.
10. Geschichte der unbeabsichtigten Folgen
Lysander recherchierte rasch die wichtigsten Hintergrundfakten zu Christian Vandenbrook. Der Hauptmann war während der hektischen ersten Kriegswochen in den Massenrückzug aus Mons verwickelt gewesen, hatte infolge einer Artillerieexplosion das Bewusstsein verloren und drei Tage im Koma gelegen. Danach litt er an periodisch wiederkehrenden Ohrenblutungen und verlor für mehrere Monate den Gleichgewichtssinn. Er wurde als für den Feldeinsatz untauglich befunden und schloss sich dem Generalstab in London an. Zunächst wunderte sich Lysander über diese komfortable Versetzung, bis er herausfand, wer Vandenbrooks Schwiegervater war: Brigadegeneral Walter McIvor, Earl of Ballatar, Held der Schlacht am Waitara-Fluss während der Maorikriege in Neuseeland. Vandenbrook hatte die jüngere Tochter des Earls geheiratet, Lady Emmeline, und mit ihr wiederum zwei Töchter bekommen, Amabel und Cecilia. Ein Mann also, der über die denkbar besten Beziehungen verfügte, der sich Geld und Ansehen erheiratet hatte. Das erklärte, warum er sich mit seinem Hauptmannssold das
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