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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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hervortretende Nackensehnen, der Adamsapfel hüpfte oberhalb des Krawattenknotens auf und ab.
    »Darin befinden sich mehrere Seiten«, fügte Lysander hinzu.
    Vandenbrook zog die Seiten zur Hälfte aus dem Umschlag, warf einen Blick darauf und stopfte sie wieder hinein. Sein unruhig schweifender Blick blieb am Gemälde über dem Kamin hängen – ein Hirsch im Heidemoor, von Nebelschwaden umwabert.
    »Wo haben Sie das her?«, fragte der Hauptmann, dessen Stimme auf einmal recht schrill klang.
    »Dort, wo Sie es zurückgelassen haben – aus dem Dene Hotel in Hythe.«
    Vandenbrook senkte den Kopf und fing an zu schluchzen – dabei gab er tiefe, klagende Laute von sich, die an ein leidendes Tier denken ließen. Dann begann er zu zittern und wiegte sich hin und her. Lysander sah seine Tränen den gelbbraunen Umschlag beflecken, der auf seinen Knien lag. Schließlich glitt Vandenbrook ganz langsam vom Sessel und fiel kopfüber hin, er presste die Stirn gegen den Teppich und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen ein knirschendes, ächzendes Geräusch hervor, das auf unerträgliche Qualen hindeutete.
    Lysander war seinerseits geschockt. Noch nie hatte er einen Mann derart jäh und heftig zusammenbrechen sehen. Als hätte Vandenbrook alles Menschliche verloren und wäre in eine atavistische Daseinsform zurückgefallen, der jedes Denken, jede höhere Empfindung fremd war.
    Er half dem Hauptmann aufzustehen – sich plötzlich der Absurdität dieser Situation bewusst, zwei englische Offiziere in Uniform, die sich in einem Salon in Knightsbridge aufhielten, Jäger und Gejagter, der entlarvte Spion schluchzend vor ihm. Lysander empfand Mitleid für seine Beute. Vandenbrook war offenkundig am Boden zerstört, er rang nach Luft, konnte sich kaum auf den Beinen halten.
    Lysander bugsierte ihn wieder in den Sessel, entdeckte auf dem Tisch neben dem Flügel ein paar Kristallkaraffen in einem offenen Tantalusgestell und goss dem Hauptmann einen Fingerbreit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein. Vandenbrook trank einen Schluck, musste laut husten und schien sich allmählich wieder zu fangen, er atmete regelmäßiger und hörte auf zu schluchzen. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, bevor er aufstand, um zwischen Sessel und Kamin hin und her zu gehen. Lysander fiel ein, dass er keine Waffe zur Hand hatte, falls Vandenbrook ihn angreifen sollte. Doch der Hauptmann machte einen äußerst fügsamen Eindruck. Von ihm drohte keine Gefahr.
    Vandenbrook setzte sich wieder, strich Jacke und Haare glatt und räusperte sich.
    »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte er mit bebender Stimme.
    »Ich muss Sie überstellen. So leid es mir tut.«
    »Darum sind Sie in der Abteilung aufgetaucht, nicht wahr? Um mich zu finden.«
    »Um denjenigen zu finden, der den Feind mit Informationen versorgt.«
    Vandenbrook fing wieder leise zu schluchzen an.
    »Ich wusste, dass das passieren würde«, sagte er. »Ich wusste, dass eines Tages einer wie Sie kommen würde.« Er sah Lysander ins Gesicht. »Ich bin kein Verräter.«
    »Darüber wird das Gericht befinden –«
    »Ich werde erpresst.«
    Der Hauptmann bat Lysander, ihm zu folgen, und sie stiegen ein paar Stufen zu einem Raum im Zwischengeschoss hinauf, den er als sein Arbeitszimmer bezeichnete – einige Bücherregale, ein kleiner Doppelschreibtisch aus Eiche mit vielen schmalen Schubladen und eine Leselampe mit grünem Schirm. In einer Ecke stand ein Juweliertresor, so groß wie eine Teekiste. Vandenbrook kauerte davor und drehte die Kombination ein. Dann öffnete er den Tresor und holte einen Umschlag hervor, den er Lysander übergab. Der Adressat lautete schlicht: »Hauptmann Vandenbrook, Knightsbridge«.
    »Die werden mir immer nachts in den Briefkasten gesteckt«, erklärte Vandenbrook.
    Lysander zog eine Fotographie und zwei speckige, maschinenbeschriebene Seiten aus dem Umschlag. Das Foto zeigte ein etwa zehn Jahre altes Mädchen. Sie blickte ausdruckslos in die Kamera, hatte dicke, fettige Haare und trug eine Baumwollbluse, die ihr offenkundig zu groß war. Außerdem eine einfache, kostbare Perlenkette, was nicht so recht passen wollte.
    »Ich habe ein Problem«, sagte Vandenbrook mit brüchiger Stimme. »Eine fatale Neigung. Zu Prostituierten.«
    »Die Kleine da soll eine Prostituierte sein?«
    »Ja. Genau wie ihre Mutter.«
    »Wie alt ist das Mädchen?«
    »Das weiß ich nicht so genau. Neun. Elf … «
    Lysander starrte Vandenbrook an, der mit gesenktem Kopf leicht zitternd

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