Eine große Zeit
hochherrschaftliche Haus in Knightsbridge und die anderen kostspieligen Annehmlichkeiten leisten konnte. Das erklärte jedoch nicht, warum er Landesverrat beging. Oder warum er sich auf eine Affäre mit Anna, verwitwete Lady Faulkner, einließ. Diese Fragen würden sich nur klären lassen, wenn er Vandenbrook so schnell wie möglich stellte.
Eine Art Lähmung befiel Lysander, als er überlegte, wohin seine nächsten Schritte ihn wohl führen würden, und er verspürte den beinah unwiderstehlichen Drang, das Ganze noch weiter hinauszuzögern. Sobald er Vandenbrook mit der Beweislage konfrontierte, würde sich alles ändern – nicht nur für Vandenbrook, sondern auch für ihn. Und vielleicht für seine Mutter. Er machte sich bewusst, dass jede Handlung unbeabsichtigte Folgen nach sich zieht und er daran so oder so nichts ändern konnte.
Am späten Nachmittag suchte er Vandenbrook unter großer Anspannung in seinem Büro auf. Der Hauptmann diktierte seiner Sekretärin gerade einen Brief und wies Lysander einen Stuhl zu. In der Ecke stand eine Grünpflanze in einem Topf aus handgearbeitetem Messing, auf dem Boden lag ein Perserteppich und an der Wand hing ein Porträt aus dem 19. Jahrhundert, das einen Dragoner mit Backenbart darstellte, dessen Hand auf dem Knauf seines gewaltigen Säbels ruhte.
»Aus diesem Grund wären wir Ihnen für eine möglichst prompte und detaillierte Auskunft zutiefst verbunden«, schloss Vandenbrook. »Ich habe die Ehre,Ihr ergebener Diener zu sein, mit vorzüglichster Hochachtung etc. pp. Vielen Dank, Miss Whitgift.« Die Sekretärin verließ den Raum.
»Da musste ich jemandem ein bisschen Feuer unterm Hintern machen.« Er zwinkerte Lysander zu. »Was kann ich für Sie tun, Rief?«
»Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Die Sache ist recht heikel.«
»›Unter vier Augen‹? ›Heikel‹? Hört sich ja gefährlich an«, sagte Vandenbrook heiter und nahm seinen Mantel vom Türhaken. »Ich gehe jetzt nach Hause – kommen Sie doch mit. So können wir uns einen ordentlichen Drink genehmigen und ganz ungestört reden.«
Sie nahmen ein Taxi nach Knightsbridge. Vandenbrook erklärte, dass seine Frau und seine Töchter aufs Land gefahren waren – »nach Inverswaven«, sagte er so beiläufig, als müsste das Lysander ein Begriff sein. Er nickte und antwortete aufs Geratewohl: »Bestimmt herrlich zu dieser Jahreszeit.« So nervös er insgeheim war, so entspannt verhielt er sich nach außen hin und empfand wieder einmal Dankbarkeit für seinen Beruf, der ihm erlaubte, selbst unter widrigsten Bedingungen eine solche Ruhe und Selbstsicherheit vorzutäuschen. Er bot Vandenbrook eine Zigarette an, gab ihm schwungvoll Feuer und zündete sich selbst eine an, bevor er das Streichholz aus dem Fenster schnippte und mit klarer, fester Stimme eine banale Konversation bestritt, über London, das Wetter, den Verkehr, den jüngsten Zeppelin-Angriff, die lachhafte Unwirksamkeit der Verdunkelungsmaßnahmen – »Wozu die Deckel der Straßenlaternen schwärzen? Den Lichtschein kann man von oben immer noch sehen. Völlig absurd. Widersinnig.« Vandenbrook ließ sich auf den Plauderton ein, und so unterhielten sie sich angeregt, während sie gen Westen fuhren. Vandenbrook bat ihn um eine Theaterempfehlung. Lysander legte ihm Blanche Blondel in Das Gewissen des Königs ans Herz, worauf Vandenbrook entgegnete, von Blanche Blondel würde er sich sogar ein Lehrbuch der Infanterie vorlesen lassen. Im Nu hatten sie Knightsbridge erreicht.
Vandenbrooks Butler servierte ihnen Brandy mit Soda, und sie nahmen im großen Salon im ersten Stock Platz. Lysander fand ihn zu überladen, der Flügel in der Ecke nahm so viel Raum ein, dass das restliche Mobiliar zusammengedrängt schien. Es gab unzählige Vasen mit Blumen, als wäre jemand im Haus ernsthaft erkrankt, und an den Wänden hingen in schweren Goldrahmen Ansichten der Highlands im Wechsel der Jahreszeiten. Lysander nahm an, dass die Bilder in der Gegend von Inverswaven gemalt worden waren.
»Verraten Sie mir doch, worüber Sie mit mir unter vier Augen sprechen wollten«, sagte Vandenbrook, der nun nicht mehr lächelte. »So viel Spannung schadet meiner Leber.«
»Natürlich«, antwortete Lysander. Er stand auf, zog den Umschlag aus seiner Innentasche, faltete ihn auseinander und reichte ihn Vandenbrook. »Das gehört wohl Ihnen – ›Hauptmann C. Vandenbrook – wird abgeholt‹.«
Der Hauptmann stand sichtlich unter Schock. Verzerrter Mund,
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