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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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zu ihr. Sie schmiegte sich fest an mich.
    »Ich lasse nicht zu, dass dir diese Sache zum Verhängnis wird. Das lasse ich nicht zu«, sagte sie leise.
    »Mutter, sei doch bitte nicht so melodramatisch. Von ›Verhängnis‹ kann gar keine Rede sein. Und du hast nichts verbrochen – du kannst dir die Sache also aus dem Kopf schlagen. Vandenbrooks Erpresser ist äußerst raffiniert zu Werk gegangen. Keine Frage. Aber ich finde schon noch heraus, wer das ist. Ich werde ihn ebenso raffiniert austricksen.«
    »Das hoffe ich.« Sie drückte mich an sich. Es war schön, sie in den Armen zu halten. So nah waren wir uns seit dem Tod meines Vaters nicht mehr gewesen. Ich küsste sie auf die Stirn.
    »Mach dir keine Sorgen. Ich werde ihn kriegen.«
    Hoffentlich hörte ich mich zuversichtlicher an, als ich war. Ich wusste, sobald ich Munro und Massinger von Vandenbrooks Verrat erzählte, würde alles im Handumdrehen aufgedeckt werden – der Fonds, die Treffen, die Hotels, die Abendessen. Als ich mir die möglichen Folgen ausmalte, wurde mir zu meinem Schrecken klar, dass man auch mich belasten könnte. Dabei fiel mir ein nicht ganz unwichtiges Detail wieder ein.
    »Ich sollte bald fahren«, sagte ich und ließ sie los. »Aber zuvor muss ich dich noch um etwas bitten. Erinnerst du dich an das Libretto, das ich dir mal gegeben habe, mit dem illustrierten Umschlag? Andromeda und Perseus .«
    »Sicher«, sagte sie, nun wieder mit einem Hauch ihrer gewohnten trockenen Ironie. »Wie könnte ich das vergessen? Die Mutter meines Enkels ohne einen Faden am Leib.« Auf dem Weg zur Tür erklärte sie: »Ich habe es in meinem Büro.« Und nach einer kurzen Pause fragte sie: »Wie geht es dem Kleinen?«
    »Lothar? Soweit ich weiß, geht es ihm gut – er ist bei einer Familie in Salzburg untergebracht.«
    »Lothar in Salzburg … Was ist mit seiner Mutter?«
    »Sie ist wohl nach England zurückgekehrt«, antwortete ich ausweichend.
    Mit einem vielsagenden Blick ließ sie mich stehen, um das Libretto zu holen. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass mir genug Zeit blieb, um in Lewes den letzten Zug nach London zu erwischen. Meine Mutter kehrte in heller Aufregung zurück.
    »Was ist los?«, fragte ich.
    »Du wirst es nicht glauben. Dein Libretto – es ist weg.«
    Ich sitze im Zug nach London. Die Gedanken rasen, ständig ergeben sich neue Fragen. Das Büro meiner Mutter ist ein Arbeitszimmer im obersten Stock, von dort aus verwaltet sie den Fonds. Für die Sekretärinnen stehen zwei Schreibtische bereit, ansonsten befinden sich darin nur ein paar weiße Holzregale, die mit wenigen Büchern und unzähligen Aktenordnern vollgestopft sind. Meine Mutter war sich ganz sicher, sie habe das Libretto dazugestellt. Unsere gemeinsame Suche verlief genauso erfolglos. Bücher gehen doch ständig verloren, sagte ich, um sie zu beruhigen. Immerhin war es fast anderthalb Jahre her, dass ich ihr das Libretto überlassen hatte. In anderthalb Jahren kann alles Mögliche passieren.
    Während ich dies schreibe, liest der Fahrgast, der mir gegenüber sitzt, einen Roman und bohrt sich ab und zu in der Nase, inspiziert den Ertrag seiner Nasenhöhlen und steckt ihn sich in den Mund. Erstaunlich, was wir von uns preisgeben, wenn wir uns unbeobachtet wähnen. Erstaunlich, was wir von uns preisgeben, wenn wir wissen, dass wir beobachtet werden.
    In meinem Hotelzimmer finde ich einen kleinen Stapel Post vor. Ein Vermietungsbüro schickt mir eine Liste mit vier möblierten Apartments im Umfeld der Strand und von Charing Cross, die kurzfristig zu vergeben sind. Ich freue mich darauf, bald wieder ein eigenes Zuhause zu haben, nicht zuletzt, weil Hettie dann unerkannt und unbekümmert mit mir zusammen sein kann. Zu meiner Überraschung steckt im Stapel auch ein Telegramm von Massinger. Darin schlägt er ein Treffen um 16 Uhr am morgigen Nachmittag vor, in einem Teesalon in Mayfair, die Skeffington Tearooms in der Mount Street.
    Die letzte Stunde habe ich damit zugebracht, Whisky aus meinem Flachmann zu trinken und Namenslisten mit den unterschiedlichsten Reihenfolgen und Konstellationen zu erstellen. Ich habe die Namen mit punktierten Linien und Doppelpfeilen verbunden, einige in Klammern gesetzt und andere dreimal unterstrichen. Nach dieser vollkommen sinnlosen Übung habe ich immer noch keine Ahnung, weshalb Massinger mich treffen will.

13. Trevelyan House Nr. 3/12, Surrey Street
    Lysander wählte das zweite der vier möblierten Apartments, die ihm ein kurzatmiger,

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