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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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korpulenter Makler zeigte. Es befand sich im dritten Stock eines Wohngebäudes namens Trevelyan House in der Surrey Street, dicht an der Strand: ein Schlafzimmer, ein kleines Wohnzimmer, ein modernes Bad und eine Küche, tatsächlich mehr ein Schrank mit einer Spüle, einer elektrischen Doppelkochplatte und einem tristen Blick auf die weißen Kacheln des Lüftungsschachts. Zwar hätten alle Apartments Lysanders elementaren Bedürfnissen entsprochen, aber die Vorhänge, Teppiche und Möbel der Nummer 3/12 waren noch verhältnismäßig neu und damit besonders ansprechend – keine schmierigen Stoffränder, kein abgewetzter Bodenbelag vor dem Kamin oder Zigarettenbrandlöcher auf dem Sims. Das Einzige, was ihm hier noch fehlte, dachte Lysander, war ein bisschen Farbe – ein Bild, ein paar neue Lampenschirme, Sofakissen, die ihm helfen würden, die nüchternen Räume zu personalisieren.
    Er unterschrieb den Vertrag, zahlte eine Monatsmiete im Voraus und bekam zwei Schlüsselsätze ausgehändigt. Die Bettwäsche und den Hausrat, den er nach seinem Auszug vom Chandos Place eingelagert hatte, wollte er sich unverzüglich von einem Dienstmann bringen lassen. Sein Arbeitsplatz war schätzungsweise knapp zehn Gehminuten entfernt – noch ein unverhoffter Vorzug der kleinen »Liebeslaube«, die er mit Hettie zu teilen gedachte. Bei dieser Aussicht spürte er die Erregung von einst – bei der Aussicht, wieder nackt mit ihr in einem Bett zu liegen – und musste erkennen, dass die Verheißung grenzenloser Lust jede Vorsicht, die er hätte walten lassen müssen, in den Wind schlug. Hettie – Venora – war inzwischen verheiratet; außerdem war der neue Mann an ihrer Seite von Wut und Eifersucht erfüllt. Hoff und Lasry: beide ressentimentsgeladene Hitzköpfe – was fand Hettie an diesem Typus nur so anziehend? Außerdem war Lysanders Leben momentan so kompliziert, dass er jede neue Komplikation tunlichst hätte meiden müssen. »Pflücke die Rosen kühn , die dir am Wege blüh’n« , sagte er sich, als wäre in diesen zwei Liedzeilen die Lösung aller Probleme enthalten. Nun hatte er ein neues Dach über dem Kopf – dessen Adresse nur ihm bekannt war, was wohl seinen wichtigsten Vorzug darstellte.
    Die Skeffington Tearooms in der Mount Street hielten sich trotzig an vornehme Standards, wie Lysander schon von weitem feststellen konnte. Vorhänge aus allerfeinster Spitze schirmten die Teetrinker vor neugierigen Passanten ab; der Name des Etablissements stand in schwarzen Glasbuchstaben auf einem weißen Metallschild voller Schnörkel, die entweder mit vergoldeten Blümchen oder vierblättrigem Klee versehen waren. Ein Serviermädchen mit Häubchen und langer weißer Latzschürze fegte die Straße vor dem Eingang. Zu Massinger passte das Lokal nicht.
    Kristalllüster beleuchteten den großen, langgestreckten Innenraum, an den Wänden befanden sich halbrunde Chesterfield-Sitznischen aus weinrotem Samt. Zwei Reihen auf Hochglanz polierter Tische mit Zierdeckchen und Blumenschmuck in der Mitte nahmen den Rest des Platzes ein. Das leise Klirren von Silberbesteck auf Porzellan und gedämpftes Stimmengemurmel begrüßten Lysander. Er hatte das Gefühl, eine Bibliothek zu betreten, in der die üblichen unausgesprochenen Verbote galten – keine lauten Schritte bitte, möglichst kein Husten und kein Räuspern, und vor allem kein Lachen.
    Eine strenge Frau mit Zwicker auf der Nase sah nach, ob Massingers Name im Gästebuch eingetragen war, dann führte ein Serviermädchen Lysander zur hinteren Ecknische. Dort saß Massinger, der zu allem Überfluss auch noch einen Cutaway trug, rauchte und las Zeitung. Als er Lysander erblickte, lächelte er nicht, sondern hielt die Zeitung hoch und deutete auf eine Schlagzeile: »1916 droht das Aus für englisches County Cricket.«
    »Ist das nicht furchtbar?«, sagte Massinger. »Was bleibt uns dann noch? Ich bin entsetzt.«
    Lysander pflichtete ihm bei, setzte sich und bestellte ein Kännchen Kaffee. Ihm war nicht nach Tee zumute; Massinger zählte nicht zu den Personen, mit denen man gern Tee trank.
    »Warum wollten Sie mich sehen?«, fragte er, als Massinger seine Zigarette geradezu gewaltsam im Aschenbecher ausdrückte und den Rauch ausschnaubte.
    »Ich wollte Sie nicht sehen, Rief.« Massinger hob den Kopf. »Sie aber schon«, fuhr er fort und streckte den Arm aus.
    Wie eine Erscheinung trat Florence Duchesne an den Tisch.
    Lysander geriet sofort in Panik: Bestimmt würde sie gleich einen

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