Eine große Zeit
bekannte er freimütig. Eigentlich sollte er nicht so offen mit ihr reden, aber sie schien von den gleichen Zweifeln und dunklen Ahnungen geplagt zu sein wie er. Kaum wähnte man sich im Besitz der entscheidenden Fakten, lösten sich sämtliche Gewissheiten gleich wieder auf.
»Mir geht es nicht anders als Ihnen«, fuhr er fort. »Ich befolge nur Anweisungen. Bemühe mich, vorausschauend zu handeln. Mit Problemen zu rechnen. Versuche, keine Fehler zu begehen.« Er lächelte. »Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Glück. Ich muss jetzt los.« Sie standen beide auf. Florence Duchesne zog eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm.
»Ich werde wohl noch ein paar Tage in London bleiben«, sagte sie. »Es wäre schön, Sie wiederzusehen. Ich habe unser Abendessen in Genf nicht vergessen – un moment agréable .«
Lysander warf einen Blick auf die Karte, die von ihrem Hotel stammte, dem Bailey’s in der Gloucester Road. Es war auch eine Telefonnummer angegeben.
»Ich rufe Sie an«, antwortete er, ohne wirklich zu wissen, ob und warum er Florence Duchesne noch einmal treffen sollte. Er wollte ihr aber auch nicht den Eindruck vermitteln, dass ihre Wege sich hier endgültig trennten, und so ließ er zumindest die Möglichkeit eines Wiedersehens offen.
Draußen vor dem Teesalon nahmen sie Abschied. Florence Duchesne erklärte, sie wolle ein wenig die Stadt erkunden, schließlich sei sie zum ersten Mal in London. Als sie ihm die Hand gab, spürte Lysander, wie sie den Druck auf seine Finger verstärkte. Sie sah ihm in die Augen. Wollte sie ihn stumm zur Vorsicht ermahnen? Oder ihm erneut zu verstehen geben, dass sie ihn gern wiedersehen wollte und mit seinem Anruf rechnete? Lysander blickte ihr nach, als sie mit wehendem Bisammantel davonging, und malte sich diverse Szenarien aus, ihm fiel ein, dass er sich Florence Duchesne einst nackt, beschwipst, sich kringelnd vor Lachen vorgestellt hatte … Diese Fantasie wirkte auf einmal gar nicht so unrealistisch. Er hielt ein Taxi an und ließ sich zum Embankment fahren.
Lysander wusste bereits, dass er bis spät in die Nacht würde arbeiten müssen. Dank des magischen C.I.G.S.-Briefs hatte Tremlett ihm sämtliche Reisekostenabrechnungen von Osborne-Way beschafft, die dieser dem Kriegsministerium vorgelegt hatte, unter der Bedingung, dass die Unterlagen gleich am nächsten Tag zurückgegeben wurden.
Tremlett ließ den schweren Ordner auf Lysanders Schreibtisch fallen.
»Ist Hauptmann Vandenbrook in seinem Büro?«, fragte Lysander.
»Hauptmann Vandenbrook ist in Folkestone, Sir. Morgen Vormittag kommt er zurück.«
Sehr gut, dachte Lysander – Vandenbrook verhielt sich wie immer. »Danke«, sagte er zu Tremlett. »Bringen Sie mir bitte noch das Kriegstagebuch und die Kopien der Reisegenehmigungen zu Land.«
Die nächsten zwei Stunden sichtete er Osborne-Ways Reisebelege und glich sie mit Vandenbrooks Fahrten ab, ohne Überschneidungen festzustellen. Osborne-Way war sogar in Frankreich gewesen, als zwei Glockner-Briefe in Hotels in Sandwich und Deal hinterlegt worden waren. Außerdem hatte Osborne-Way in Frankreich das süße Leben genossen: teure Restaurants in Amiens; ein Wochenende im Pariser Hôtel Meurice – was hatte er dort zu tun gehabt? – , alles auf Kosten des Kriegsministeriums und der britischen Steuerzahler. Frustriert fragte sich Lysander, ob er Osborne-Ways Verschwendung rachehalber einem seiner Vorgesetzten melden sollte, ein kleiner Hinweis nur, der ihm das –
Plötzlich hörte er im Flur laute Stimmen und eilige Schritte.
Es klopfte an seine Tür, und Tremlett steckte den Kopf herein. Seine Augenklappe war leicht verrutscht.
»Wir gehen alle nach oben, Sir. Zeppelin im Anflug!«
Lysander nahm seinen Mantel vom Haken und folgte Tremlett über die Treppe zum Dach. Ein halbes Dutzend Männer hatte sich auf der Plattform neben dem Aufzuggehäuse versammelt und blickte nach Westen, wo die langen, leuchtenden Finger der Suchscheinwerfer den Nachthimmel schwerfällig nach dem Luftschiff abtasteten. In der Ferne knallten Luftabwehrgeschosse, hoch über ihnen explodierte ab und zu eine Leuchtgranate.
Lysander blickte auf die nächtliche Stadt herab, die sich etwa sieben Stockwerke tiefer unter ihm erstreckte. Auf ihn wirkte sie genauso wie in Friedenszeiten – Automobile und Omnibusse blinkten, Schaufenster erstrahlten unter den Vordächern, Straßenlaternen spendeten, wie Perlen an einer Schnur aufgereiht, ihr milchiges Licht. Dazwischen
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