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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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auf. Er versuchte es erneut an der Nordseite der Exeter Street, wo er sich wenigstens von den Fassaden abstützen konnte. Hier glitzerte überall Glas, funkelten Splitter wie orangerote Diamanten – jedes einzelne Fenster war geplatzt. Lysander überlegte, wo sich im Lyceum die Garderoben befanden – sein Vater hatte in den achtziger Jahren ständig dort gespielt. Vielleicht war es auch nicht während der Pause passiert – die Bühne bot mehr Sicherheit – , aber da er dieses vermaledeite Stück noch nicht gesehen hatte, konnte er nicht wissen, wo Blanche sich bei der Explosion aufgehalten hatte.
    Er kletterte über den Haufen rutschender Ziegel. Das flackernde Gaslicht ließ seinen wogenden, flimmernden Schatten an der Fassade zu einem Ungeheuer anwachsen. Der Krater war gewaltig, fast vier Meter tief. Drum herum lagen weitere Leichen sowie Körperteile verstreut. Das Eckpub – The Bell – brannte lichterloh. Das Theaterpublikum ging in den Pausen gern in dieses Pub, die Bombe hatte es zur Spitzenzeit erwischt. Dahinter sah er Polizisten eine Kette bilden, um die entsetzten, aber schaulustigen Passanten von den Flammen fernzuhalten, die aus der Gasleitung aufschlugen.
    Lysander hörte Ziegel auf die Straße fallen, das Knacken zerbrechender Eier, und sah gerade noch rechtzeitig, dass eine Fensterlaibung einstürzte und dabei die halbe Wand mit sich riss. Er warf sich zur Seite und glitt vom Ziegelhaufen atemlos auf die Straße. Vor seinen Augen flimmerte es, während er nach Luft rang. Er stemmte sich auf die Knie und bemerkte eine Gestalt, die nur ein paar Meter entfernt reglos im Schatten verharrte und offenbar in seine Richtung schaute.
    »Helfen Sie mir!«, rief Lysander keuchend.
    Die Gestalt rührte sich nicht. Ein Mann mit Hut und hochgeschlagenem Mantelkragen – mehr war nicht zu erkennen, nachdem die Straßenlaternen ausgefallen waren. Der Mann stand an der Ecke Exeter Street und Strand, wo Lysander die ersten Toten gesehen hatte.
    Schwankend, leicht beunruhigt stand Lysander auf, während die Gestalt ihn immer noch anzustarren schien. Was war denn los? Warum rührte dieser Mann keinen Finger? Die Gasleitung loderte wieder auf und sorgte für etwas Licht – die Gestalt hielt sich die Hand vor das Gesicht.
    »Ich kann Sie sehen!«, brüllte Lysander, obwohl das nicht der Fall war, aber er wollte den Mann aus der Reserve locken. »Ich weiß, wer Sie sind! Ich kann Sie sehen!«
    Die Gestalt machte auf dem Absatz kehrt und rannte um die Ecke – schon war sie verschwunden.
    Es hatte keinen Zweck, ihr nachzujagen, dachte Lysander, außerdem musste er dringend Blanche finden. Er erklomm ein weiteres Mal den Ziegelhaufen, glitt auf der anderen Seite wieder herunter und rannte zum Bühneneingang des Lyceum. Ein Polizist hatte sich dort untergestellt.
    »Wo sind die Schauspieler? Ich habe eine Freundin –«
    »Sie können hier nicht rein, Sir. Es haben sich alle draußen auf der Strand versammelt.«
    Lysander erkannte, dass die Wellington Street unpassierbar war, er würde den Weg wieder zurückgehen müssen. Vorsichtig stieg er über den Ziegelhaufen und sah, dass inzwischen Polizisten und Rettungsmannschaften die Leichen und Verletzten bargen. Die Gefahr war gebannt. Er lief an ihnen vorbei über die Strand Richtung Aldwych Street. Dort war eine riesige Menge zusammengekommen. Das Strand Theatre direkt gegenüber war evakuiert worden, so dass die Straßen vor gutgekleideten Theatergängern wimmelten, die rauchten und sich aufgeregt unterhielten – überall Satinfliegen, Straußenfedern, Seide, Schmuck. Er ließ den Blick schweifen. Wo waren nur die Schauspieler?
    »Lysander! Nicht zu fassen!«
    Es war Blanche, mit einem Becher Kaffee in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand. Jemand hatte ihr seinen Mantel wie ein Cape um die Schultern gelegt.
    Als er sie sah, bekam er plötzlich weiche Knie. Er ging auf sie zu und küsste sie auf die Wange, schmeckte die Theaterschminke. Im flackernden Licht der brennenden Gasleitung sah Blanche mit ihrer weißen Regency-Perücke geradezu grotesk aus – eine schrill bemalte Spinnerin mit stark gewölbten schwarzen Augenbrauen, Schönheitspflästerchen und knallroten Lippen.
    »Hast du bei der Explosion etwas abbekommen?«, fragte sie.
    Lysander blickte an sich hinunter. Er war über und über mit Ziegelstaub bedeckt, am linken Knie war seine Hose aufgerissen, er trug keinen Hut, von einem Fingerknöchel troff Blut.
    »Nein. Ich war bei der Arbeit, und als

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