Eine große Zeit
ist momentan die beste Verteidigung, dachte Lysander.
»Gibt es vielleicht etwas, das Sie mir vorenthalten, Munro? Manchmal frage ich mich nämlich, was hier wirklich vor sich geht.«
»Sie sollen Andromeda finden. Und zwar schnell.« Munro warf ein paar Münzen auf den Tresen, lächelte Lysander kalt an und ging.
Auf dem Weg in die Verschickungsabteilung fiel Lysander ein Plan ein, der in seinem Kopf langsam Gestalt annahm. Wenn Munro von ihm Taten verlangte, sollte er welche zu sehen bekommen.
Vor Zimmer 205 wartete Tremlett auf ihn und schien besonders aufgekratzt: »Wie wär’s mit ’nem Tässchen Tee, Sir? Wärmt Bauch und Seele.« Doch Lysander betrachtete ihn nun mit Argwohn, er fragte sich, was Tremlett während ihrer Südküstenfahrt aufgeschnappt haben könnte. Im Grunde war es recht unwahrscheinlich, dass Tremlett die Hoteltour mit Vandenbrook in Verbindung bringen würde. Lysander hatte ihm nie gesagt, worum es ging, und den Obergefreiten immer draußen warten lassen. Tremlett war allerdings nicht auf den Kopf gefallen. Ob er Munro so oder so über die Einzelheiten ihrer Reise unterrichtet hatte? Vermutlich – selbst wenn er sie nicht erklären konnte. Waren Munro und Fyfe-Miller deswegen so beunruhigt? Dachten sie, dass er ihnen ein paar Schritte voraus war, Tatsachen aufdeckte, von denen sie nicht das Geringste ahnten? Wieder jagte eine offene Frage die nächste, und Lysander hatte das Gefühl, im Morast der Ungewissheiten zu versinken. Er nahm ein Heft mit Telegrammvordrucken aus der Schreibtischschublade. Nun würde er ihnen wirklich Stoff zum Nachdenken liefern.
Lysander nahm den Hörer ab und wählte Tremletts Nummer.
»Ja bitte, Sir?«
»Ist Hauptmann Vandenbrook aus Folkestone zurückgekehrt?«
»Denke schon, Sir.«
»Richten Sie ihm bitte aus, er möge in mein Büro kommen.«
Lysander gönnte sich ein Mittagessen in Max’s Oyster Bar in Soho. Er bestellte ein Dutzend Austern und einen halben Liter Rheingauer Weißwein, ehe er sich den angenehmen Gedanken an Blanche und ihre gemeinsame Nacht überließ. Wie groß, fast ungelenk sie ihm zwischen den Laken erschienen war – Laken, die sie beide zuvor wie im Rausch aus seinen Kisten, die der Dienstmann am Morgen gebracht hatte, hervorzogen und über das Bett breiteten – , als bestünde sie aus lauter Knien und Ellbogen, so dünn und knochig war sie. Dazu ihre flachen breiten Brüste mit den rötlich braunen Warzen. Es lag auf der Hand, dass sie vor ihm viele Liebhaber gehabt hatte. Die Art und Weise, wie sie seinen Kopf gehalten, die Finger in seinen Haaren verkrallt hatte … Von wem hatte sie das wohl gelernt? Er bereute keineswegs, dass er ihr in einer spontanen Anwandlung den Ring zurückgegeben hatte – selbst wenn er sich nun, da er eine Auster nach der anderen schlürfte, fragte, ob er vielleicht zu übereilt gehandelt habe, aus lauter Freude und Erleichterung darüber, dass sein altes Problem sich nicht wieder eingestellt hatte, als er mit Blanche zusammen war. Es war tatsächlich so beglückend gewesen wie mit Hettie. Auch wenn zwischen ihr und Hettie Welten lagen. Bei Blanche fühlte er sich nicht bedroht. Sie strahlte eher etwas sehr Zuverlässiges aus. Agnes Bleathby, so erfrischend bodenständig. Damit war Hettie aus dem Rennen, natürlich. Aber das war nur recht und billig, so übel, wie sie ihm mitgespielt hatte, um ihre eigene Haut zu retten, und das, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl sie die Mutter seines Sohnes war. Lysander wurde bewusst, dass Lothar ihr so gut wie nichts bedeutete. Mehr noch, er – Lothars leiblicher Vater – spielte für Hettie offensichtlich nur dann eine Rolle, wenn sie ihn für ihre egoistischen Zwecke brauchte – ihre Heirat mit Jago Lasry zeigte das ganz deutlich. Nein, Blanche war von Anfang an die Richtige für ihn gewesen. Sie hatte ihn zum Abendessen in ihr kleines ehemaliges Stallhaus in Knightsbridge eingeladen, weil sie nicht auf die Bühne musste. Die Inszenierung wurde so lange ausgesetzt, bis die Schäden am Lyceum repariert waren. Bei der Vorstellung, dass Blanche ihn bekochte, wenn er aus dem Büro kam, musste Lysander lächeln – ein kleiner Vorgeschmack auf ihr häusliches Glück? Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit empfand er wieder ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Zufriedenheit – so selten, dass man sie zu Recht derart hoch schätzte. Er bestellte noch ein Dutzend Austern und noch einen halben Liter Rheingauer Weißwein.
Beschwingt kehrte Lysander in die
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