Eine große Zeit
lag er rauchend im Dunkeln auf dem Bett, immer noch im Mantel, und versuchte, sich einen Reim auf die Ereignisse zu machen. Quälende Fragen spukten ihm unablässig im Kopf herum. Wann hatte Hettie entdeckt, dass sie schwanger war? Warum hatte sie Hoff davon erzählt? Sie musste sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund dazu durchgerungen haben, woraufhin Hoff völlig entrüstet zur Polizei gerannt war. Sie hatte ihn wohl angeschwindelt, überlegte Lysander weiter, um ihre eigene Haut zu retten, und dieses Märchen ersonnen, wonach er sie im Atelier besucht und im Verlauf jenes Nachmittags sexuell genötigt hatte. Es lag auf der Hand, dass sie Hoff die anschließende Affäre verschwiegen hatte. Warum eigentlich, wenn sie doch wusste, dass sie schwanger war? Aber wie konnte sie schwanger sein? Ihm hatte sie erzählt, sie sei unfruchtbar – angeblich bekäme sie ihre Regel nur alle paar Monate, wenn überhaupt, und würde sie kaum bemerken. Aus diesem Grund hatte er keine Verhütungsmittel benutzt. Hatte sie ihn belogen? Hatte sie ihm wieder eine Falle stellen wollen?
Kurzzeitig empfand er eine Art blinde Wut auf Hettie; man hatte ihm unrecht getan, und die Unverschämtheit, die wahnsinnige Durchtriebenheit, die dahintersteckte, raubte ihm schier den Atem. Er setzte sich auf, rang wie ein Erstickender nach Luft und ermahnte sich zur Ruhe. Ihm war so schwindlig, dass er sich um seinen Blutdruck sorgte. Wenn er sich derart von seinen Gefühlen übermannen ließ, wäre nichts gewonnen. Klares, logisches Denken war das Einzige, womit er sich zur Wehr setzen konnte. Er durfte sich nicht gehenlassen.
Zunächst beruhigte er sich, doch im Lauf der Nacht nahmen seine Ängste zu, während er die verschiedenen Szenarien immer wieder durchspielte. Lysander erkannte, dass er sich nur verteidigen konnte, wenn er die Affäre offenlegte – er musste aller Welt (und Hoff) sämtliche Details seiner Beziehung zu Hettie preisgeben. Was sollte Hoff bei dieser Beweislage noch vorbringen? Gar nichts. Und so würde die Klage doch bestimmt abgeschmettert werden, oder nicht?
Er blieb im Dunkeln liegen, nur ab und zu lief er in seiner kleinen Zelle auf und ab. Auf den Sonnenaufgang wartend, rauchte er seine Zigaretten auf, konnte weder ruhen noch schlafen, da seine Gedanken unaufhörlich rasten. Ja, das war die einzige Möglichkeit – er musste Hetties haarsträubende Geschichte aufdecken und sie als Lügnerin entlarven. Er dachte an ihr Geschenk, das Andromeda-Libretto mit der rätselhaften Widmung. Nun wurde ihm klar, dass sie ihm damit im Vorfeld ein Geständnis gemacht hatte, und er fragte sich, ob es auch eine Warnung sein sollte.
Am frühen Morgen wurde Lysander gemeinsam mit zwei anderen Übeltätern zum Gericht gefahren. Um zehn nach acht stand er einem verschlafenen vorsitzenden Richter gegenüber, dem ein Stückchen Eiweiß im ausladenden, nikotinverfärbten Schnurrbart steckte. Lysander wurde offiziell wegen Notzucht angeklagt, eine Kautionsstellung wurde ihm verweigert – wie stets in solchen Fällen, erklärte der Richter – und sein Verhandlungstermin auf den 17. Mai 1914 festgesetzt. Weil er keinen Anwalt hatte, wurde er gleich zur Polizeidirektion zurückgebracht und wieder in seine Zelle gesperrt. Um zehn Uhr bekam er eine Schale Karottensuppe und einen Kanten Schwarzbrot. Als Lysander nach Inspektor Strolz fragte, erfuhr er, dass der Inspektor einen zweiwöchigen Urlaub angetreten hatte.
Angesichts seiner Ohnmacht verspürte Lysander eine schleichende Furcht, die er als Zeichen beginnender Verzweiflung deutete. Wie sollte er sich nur einen Anwalt beschaffen? Vermutlich würde ihm das Gericht für die Verhandlung im Mai einen Pflichtverteidiger zuteilen. Bis dahin waren es über drei Monate. Würde er so lange in dieser Zelle verwahrt oder in ein Gefängnis überstellt werden? Er fing an, Hettie wegen dieser abscheulichen, aberwitzigen Lüge zu verfluchen. Warum hatte sie Hoff nicht einfach die Wahrheit gesagt? Was versprach sie sich von diesem grauenhaften Schlamassel, in den sie ihn gestürzt hatte?
Er hämmerte so lange gegen die Zellentür, bis jemand kam, und bat um Stift und Papier. Die Bitte wurde ihm abgeschlagen.
Er urinierte in den Nachttopf.
Er wusch sich Hände und Gesicht am Becken und trocknete sich mit dem Mantelfutter ab.
Er legte sich hin und döste eine Stunde.
Er zog Mantel und Krawatte aus und machte ein paar simple Gymnastikübungen – Liegestütze, Scherensprünge, auf der Stelle laufen –
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