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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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nicht der Fall sein würde, und wusste genau, dass Frau K ihm ins Gesicht gespuckt hätte, wären keine Zeugen zugegen gewesen.
    Die Männer brachten ihn zu einem Polizeiwagen an der Ecke Mariahilfer Straße. Sie öffneten die Hecktüren, und er kletterte hinein. Durch das kleine vergitterte Fenster ohne Glas, das an einer Seite eingelassen war, betrachtete er die verschneiten Wienansichten, die an ihm vorbeizogen – die Oper, die Hofburg, das Hofburgtheater. Alle Monumente dieser alt-neuen Stadt blitzten flüchtig vor seinem Auge auf, wie bei einem Stereoskop, bis sie die Polizeidirektion am Schottenring erreichten.

20. Junge oder Mädchen?
    Der Wagen bog vom Schottenring ab und fuhr durch einen gewaltigen Torbogen in einen Innenhof, während die riesigen hölzernen Torflügel sich langsam und leise hinter ihnen schlossen. Lysander wurde durch einen langen Gang zu einem Vernehmungsraum geführt. Es roch nach Desinfektionsmittel, und in den leeren Fluren hallten irritierenderweise Schritte aus anderen Gebäudeteilen, als tummelten sich hier die Geister früherer Häftlinge, die bis in alle Ewigkeit in ihre Zellen hinein- und wieder hinausgeleitet wurden.
    Lysander nahm Platz. Hinter dem Schreibtisch saß ihm der tüchtige Inspektor Strolz teilnahmslos gegenüber. Er trug Lysanders Personalien in ein umfangreiches Register ein, mit Federhalter und Tintenfass, wie ein viktorianischer Schreiber. Lysander, noch im Mantel, mit dem Hut auf den Knien, versuchte seiner wachsenden Empörung – in die sich unterschwellig aufflackernde Panik mischte – Herr zu werden. Als er nun offiziell beschuldigt wurde, fand er es an der Zeit, selbst ein paar wesentliche Fragen zu stellen.
    »Wen soll ich denn vergewaltigt haben?«
    Strolz sah in seinem Notizbuch nach.
    »Fräulein Esther Bull. Am 3. September des vergangenen Jahres oder unmittelbar darauf.«
    »Das ist völlig ausgeschlossen.« Er dachte nach. Am 3. September war er wohl das erste Mal in der Scheune gewesen. »Und zwar, weil … «, fuhr er mit bebender Stimme fort, unfähig, das Gefühl von Kränkung, von Ungerechtigkeit länger zu unterdrücken, »weil Fräulein Bull und ich eine … « Er unterbrach sich. »Seit vier Monaten sind wir ein Liebespaar. Wie sollte sie mir da eine Vergewaltigung vorwerfen? Verstehen Sie, Herr Inspektor? Es ist doch unmöglich, jemanden zu vergewaltigenund anschließend eine Liebesbeziehung – eine innige, leidenschaftliche, zärtliche Liebesbeziehung – mit dem Opfer einzugehen, eine Beziehung, die über Monate andauert. Das verstößt gegen jede Logik. Die Beschuldigung ist absurd.«
    Strolz nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis. »Wie dem auch sei, Herr Rief, für uns ist dieser Umstand nicht relevant. Vor Gericht fällt er vielleicht stärker ins Gewicht.«
    »Aber warum sollte sie mir eine Vergewaltigung andichten?«
    »Fräulein Bull ist im vierten Monat schwanger. Sie wirft Ihnen vor, ihr an besagtem Tag, dem 3. September1913 , Gewalt angetan zu haben. Offenbar ist das der Tag, an dem das Kind gezeugt wurde.«
    Lysander hatte es die Sprache verschlagen. Gezeugt? Er hatte Hettie doch eine Woche zuvor gesehen und sie hatte kein Wort davon verlauten lassen … Im vierten Monat schwanger? Was wurde hier gespielt?
    »Sie brauchen Miss Bull nur herzubringen«, stieß er schließlich mühsam hervor, »dann wird sich alles aufklären. Diese Farce, diese heillose Verwirrung – «
    »Das ist uns leider nicht möglich. Fräulein Bull hat die Anzeige nicht allein erstattet, sondern gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten … « Strolz warf wieder einen Blick in sein Notizbuch. »Herrn Udo Hoff. Tatsächlich war Herr Hoff derjenige, der die Polizei eingeschaltet hat.« Er klappte das Register zu und stand auf. »Morgen werden Sie dem Richter zur förmlichen Klageerhebung vorgeführt – und so sind Sie heute Nacht unser Gast. Haben Sie alles, was Sie brauchen? Zigaretten? Soll ich Ihnen Kaffee bringen lassen?«
    Lysander wurde über eine Treppe in das Halbparterre hinuntergeleitet und dort in seine Zelle gesperrt. Die Einrichtung bestand aus einer verglasten Glühbirne, die in die Decke eingebaut war, einem Holzbett mit Strohmatratze und einer Wolldecke, einem Waschbecken mit einem Wasserhahn und einem Blechnachttopf mit Klappdeckel. An der Außenwand befand sich ganz oben ein vergittertes Fensterchen. Durch die Lüftungsschlitze in der Tür verkündete eine Stimme, dass man das Licht in zehn Minuten ausschalten würde.
    Zehn Minuten später

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