Eine große Zeit
, bis er außer Atem war.
Er urinierte in den Nachttopf.
Er setzte sich auf das Bett und dachte angestrengt nach, versuchte, sich den genauen Ablauf und die Einzelheiten ihrer Affäre in Erinnerung zu rufen. Zeiten und Orte. Er ließ die Namen sämtlicher Hotels, in denen sie gewesen waren, Revue passieren – alles, was die Affäre zu einer unbestreitbaren Tatsache machte. Dann musste er wieder an Hettie denken und an den gewichtigen neuen Umstand, dass sie sein Kind unterm Herzen trug. Fast hätte er geweint. Er schniefte, hüstelte, atmete tief ein und versuchte, seine Wut zu schüren, vor allem bei dem Gedanken, dass dieser Fötus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgetrieben werden würde, eine weitere grausame Folge der misslichen Lage, in die Hettie ihn gebracht hatte. Hoff würde gewiss dafür sorgen, keine Frage. Junge oder Mädchen?, fragte er sich unwillkürlich. Bub oder Mädel?
Man brachte ihm eine dicke Scheibe kalte fettige Wurst, einen Kanten Käse und Schwarzbrot sowie einen lauwarmen Becher Kaffee.
Lysander warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war halb drei am Nachmittag.
Der Tag verstrich so quälend langsam, dass er sich wie eine ganze Woche anfühlte. Als die Sonne unterging, beobachtete Lysander, wie sich das schmale Rechteck Himmel hinter dem Zellenfenster allmählich verdunkelte. Ein Hauch Zinnoberrot hing am Wolkenrand. Die Nebengeräusche des Zellentrakts hallten pausenlos und unverändert weiter, während die Stunden sich zäh dahinzogen. Geklirr, Gebrüll, Schritte, das Rumpeln der Rollwagen, gelegentlich ein Lachen, das Schaben steifer Besenborsten, die den Zellengang ausfegten.
Nach vollständigem Einbruch der Dunkelheit wurde das elektrische Licht angeschaltet. Lysander machte ein paar weitere Liegestütze und fragte sich zugleich, wo dieses Bedürfnis nach sportlicher Betätigung auf einmal herkam. Mit dem Knopfrand kerbte er einen Strich in den Putz der Zellenwand. Tag eins. Diese melodramatische Anwandlung rang ihm immerhin ein ironisches Lächeln ab. Warum hatte er seine Zigaretten bloß letzte Nacht schon alle geraucht?
Die Tür wurde aufgesperrt, ein Polizist steckte den Kopf hindurch.
»Kommen Sie mit«, sagte er.
Lysander folgte ihm ergeben die Treppe hinauf und dann in einen weiteren Gang, wo man ihn in einen fensterlosen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen führte. Er setzte sich und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Hatte Hettie möglicherweise beschlossen, ihm zu Hilfe zu eilen? Zwei Minuten später betrat Alwyn Munro den Raum.
Lysander wäre Munro am liebsten um den Hals gefallen. Herr Barth hatte Wort gehalten – die gute Seele, der treue Freund. Das würde er ihm nie vergessen! Er begrüßte Munro mit einem warmen Händedruck.
»Da haben Sie sich aber ganz schön was eingebrockt«, scherzte Munro. Er nahm Platz und bot Lysander eine Zigarette an.
»Alles haltlose Beschuldigungen. Ein Lügengespinst. Wir sind seit Monaten ein Liebespaar.« Lysander sog so gierig an seiner Zigarette, dass ihm flau wurde.
Munro legte eine Visitenkarte auf den Tisch.
»Das ist Ihr Anwalt. Ein hervorragender Mann. Leider konnte er keine Kautionsstellung erwirken. Das ist das Problem bei Notzuchtsfällen. Aber Sie haben Glück, dem Vernehmen nach wirft Ihnen Miss Bull jetzt keine Vergewaltigung mehr vor, sondern nur noch tätlichen Angriff. Die Kaution ist hierfür sehr hoch – zehntausend Kronen.«
»Aber das ist ja absurd!«, beschwerte sich Lysander. »Tätlicher Angriff? Ich soll Miss Bull ›tätlich angegriffen‹ haben? Ich bin doch kein Verbrecher. Und wo soll ich so viel Geld hernehmen? Warum wird die Kaution so hoch angesetzt?«
»Hoffs Vater war offenbar ein überaus angesehener Bezirkshauptmann. Einflussreiche Freunde. Minister, Regierungsbeamte, Richter … Mir kommt sie auch etwas unverhältnismäßig vor.«
»Ich kann eine solche Summe nicht auftreiben – für wen halten die mich?«
»Keine Sorge – wir haben bereits gezahlt.« Munro lächelte. »Betrachten Sie es als Darlehen – wenn auch leider nicht zinslos.«
Lysander hüpfte das Herz vor Freude. Er schluckte. Seine Hände zitterten.
»Mein Gott … Ich bin Ihnen ja so dankbar. Heißt das, dass ich jetzt frei bin?«
»Nicht ganz. Es wurden bestimmte Bedingungen gestellt.« Munro lehnte sich zurück, als wollte er eine objektivere Sicht gewinnen. »Bis zur Verhandlung werden Sie auf dem Gelände der Britischen Botschaft konfiniert. Genauer gesagt im Behelfskonsulat, wo wir
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