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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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vernuschelt hatte. Das würde Rutherford ihm morgen früh bestimmt …
    Das Taxi holperte über ein paar Pflastersteine hinweg, was ihn aus seinem Dämmerschlaf riss. Gilda rutschte seitlich weg und hielt sich an seinem Arm fest.
    »Pardon«, sagte sie. »Aber findest du das nicht auch?«
    »Was?«
    »Du hast mir ja gar nicht zugehört, du elender Kerl.«
    »Meinst du, ich war zu schnell bei ›Ist es deine Schuld oder meine? Wer sündiget am meisten, der Versucher oder der Versuchte?‹ Ich hatte den Eindruck, es war zu hastig gesprochen.«
    »Kam mir nicht so vor. Was ich dich eben fragen wollte – sind wir wahnsinnig?«
    »In welcher Hinsicht?«
    »Uns auch noch Fräulein Julie zuzumuten. Die Premiere ist schon in zwei Wochen, ich kann es gar nicht fassen.«
    »Es sind doch nur neunzig Minuten, und es gibt keine Pause.«
    »Mag ja sein … Aber es ist so intensiv – wir werden völlig ausgelaugt sein. Was haben wir uns da nur aufgebürdet?«
    Das Wageninnere war ganz von ihrem Parfum erfüllt – ein penetranter, breiiger Duft nach Lilien und Zimt. »Matins de Paris«, lautete ihre Antwort, als er sie nach dem Namen fragte. Er hatte sich bereit erklärt, nach der Vorstellung auf sie zu warten, aber dann stellte sich heraus, dass sie eine Dreiviertelstunde brauchte, um sich stadtfein zu machen. Nun warf sie einen Blick in den Spiegel ihrer Puderdose, um ihre Frisur zu überprüfen, ihren Lippenstift – ein ganz zarter Roséton. Er stand ihr gut.
    »Wir werden die Letzten sein«, sagte Lysander.
    »Dann fallen wir eben richtig auf. Schließlich ist das unser Abend.«
    »Lass das bloß nicht Rutherford hören.«
    Sie lachte – ihr echtes Lachen, wie Lysander feststellte, ziemlich tief und rau, ganz anders als ihr künstliches Lachen, eine Art mädchenhaftes Trillern. Inzwischen hatten sie bei den Proben für Maß für Maß und Fräulein Julie so viel Zeit miteinander verbracht, dass es ihm leichtfiel, zwischen ihren beiden Lachen zu unterscheiden, genauso, wie er die echte Gilda Butterfield vom »Fräulein« Butterfield unterscheiden konnte, die von vielen Lackschichten überzogen war, Pseudo-Vornehmheit, Dünkel, Koketterie und andere Zierereien, von denen ihr affektiertes Lachen noch das geringste Übel war.
    »Rutherford hat mir wieder eine dieser Fragen zu Fräulein Julie gestellt, auf die ich keine richtige Antwort habe«, sagte sie.
    »Ach ja, seine berühmten Stanislawski-Fragen.« Lysander war nun hellwach – der Überschwang hatte die Erschöpfung bezwungen. »Was hat er dich denn gefragt?«
    »Er fragte: Was passiert deiner Meinung nach, als Julie und Jean hinausgehen – unmittelbar vor dem Tanzspiel?«
    »Und was hast du geantwortet?«
    »Dass sie sich wahrscheinlich küssen.«
    »Na hör mal, Gilda. Du bist doch eine Frau von Welt.«
    »Was sollten sie sonst tun?«
    Lysander wagte den Sprung ins kalte Wasser. Gilda hatte etwas an sich, das ihn provozierte. Und sie war schließlich Schauspielerin. Er senkte die Stimme.
    »Ist doch klar. Sie fi-, sie verlustieren sich miteinander.«
    »Lysander! Das nenne ich mal unverblümt.« Immerhin lachte sie aufs Neue.
    »Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Aber das ist so offensichtlich. Und das muss dem Publikum unbedingt klarwerden, wenn die beiden zurückkommen. Wenn wir beide zurückkommen.«
    »Jetzt begreife ich allmählich, was du meinst, ja … « Sie nahm wieder zu ihrem Spiegel Zuflucht, vermutlich aus Verlegenheit. Lysander fragte sich, ob er zu weit gegangen war.
    »Wenn Jean und Julie nach dem Tanzspiel wieder auf die Bühne kommen, ist alles anders«, erklärte er. »Sie haben im Rosengarten keineswegs nur miteinander geschnäbelt und gekost. Sie haben – du weißt schon, leidenschaftlich, hingebungsvoll … « Er hielt inne. »Das ist ausschlaggebend für das ganze Stück. Deswegen begehst du ja Selbstmord.«
    »Du klingst haargenau wie Rutherford«, sagte sie. »Oder hast du zu viel D.H. Lawrence gelesen?«
    Sie fuhren über die Regent Street zum Café Royal. Es war eine warme, sternenklare Nacht, nicht allzu schwül für Ende Juli. Als der Wagen gehalten hatte, bezahlte Lysander den Fahrer und war Gilda beim Aussteigen behilflich. Sie trug einen ganz engen Schlauchrock, der ihr nur winzige Schritte erlaubte, und eine ärmellose Seidenbluse voller Rüschen und Schleifen, dazu ein Perlenhalsband und lange weiße Handschuhe, die ihr fast bis zu den Achseln reichten. Ihre blonden Locken wurden von einer Unmenge Haarschmuck gebändigt. Er reichte

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