Eine große Zeit
Gilda ihre Chiffonstola, die sie sich locker um die bloßen Schultern drapierte.
»Du siehst wunderschön aus, Gilda«, sagte er. »Und als Isabella warst du vorhin großartig«, fügte er aufrichtig hinzu.
»Kein Wort mehr. Sonst muss ich weinen.«
Er bot ihr seinen Arm an, dann traten sie durch die Drehtür des rauchgeschwängerten Cafés, in dem es von Stimmengewirr und Gelächter nur so brummte.
»Wir gehören zur Gesellschaft von Rutherford Davison«, sagte Lysander dem Oberkellner.
»Oben im ersten Stock. Das kleinere der beiden Séparées.«
Schon auf der Treppe hörten sie den fröhlichen Lärm, den die restliche Truppe veranstaltete, durch die Séparéetür dringen, sie stand halb offen, wie um die Nachzügler willkommen zu heißen. Ein Champagnerkorken knallte, es wurde laut geklatscht. Gilda hielt Lysander am Ellbogen zurück, so blieben sie beide im dunklen Flur stehen. Nachdem sie sich umgeblickt hatte, nahm sie seine Hand und zog ihn an sich. Ihre Gesichter berührten sich fast.
»Was soll das werden?«, fragte Lysander.
Sie küsste ihn heftig auf den Mund und presste sich an ihn. Er öffnete die Lippen, als er den Vorstoß ihrer Zunge spürte. Dann trat sie einen Schritt zurück, zupfte die Rüschen an ihrer Bluse zurecht und drapierte die Stola neu. Lysander tupfte sich den Mund mit seinem Taschentuch ab, um etwaige Lippenstiftspuren zu beseitigen. Sie blickte ihn offen an – das war die echte Gilda Butterfield.
»Lass uns lieber reingehen«, sagte sie, »sonst fragen sie sich noch, wo wir abgeblieben sind.«
Gilda hängte sich wieder bei ihm ein und sie betraten gemeinsam das Séparée. Alle Anwesenden erhoben sich, um ihnen zu applaudieren.
Lysander ließ sich vom Kellner Champagner nachschenken, während er versuchte, Rutherford Davisons Worten zu lauschen. Er konnte Gilda auf der anderen Zimmerseite nicht ausblenden, genauso wenig wie die vielen Blicke, die sie ihm zuwarf. Wo sollte das nur hinführen? Er nahm sich vor, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen. An diesem Abend wollte er sich vom Instinkt leiten lassen, nicht von der Vernunft.
»Nein«, hörte er Rutherford gerade sagen. »Erst spielen wir zwei volle Wochen Maß für Maß und dann kündigen wir Fräulein Julie an. Ich fürchte sehr, dass sie das Stück absetzen lassen, nachdem die ersten Kritiken erschienen sind, darum sollten wir bis dahin so viele Vorstellungen wie möglich schaffen.«
»Aber du hast doch gesagt, dass das Stück dieses Jahr bereits in Birmingham aufgeführt wurde. Damit hätten wir einen Präzedenzfall.«
»Den Präzedenzfall einer todlangweiligen, prüden Inszenierung, die auf Nummer sicher geht. Wir werden es ganz anders anpacken – du wirst über meinen Ansatz staunen.«
»Du hast hier das Sagen.«
Mittlerweile mochte er Rutherford – »mögen« war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber er hatte dessen Intuition und Intelligenz schätzen gelernt. Zwar war der Regisseur kein herzlicher oder offener Mensch, doch er wusste offenbar genau, was er wollte, und setzte das zielstrebig um. Ihm zufolge ergaben Maß für Maß und Fräulein Julie eine ideale Kombination, da sich beide Stücke vorrangig um Sexualität drehten, auch wenn dreihundert Jahre dazwischen lagen. Tatsächlich hatten die Untertöne und Doppelbödigkeiten, die an diesem Abend auf der Bühne enthüllt wurden, das Publikum mehrfach hörbar aufmerken lassen. Lysander überlegte, wie die Kritiken ausfallen würden, selbst wenn er sie keineswegs zu lesen beabsichtigte. Rutherford meinte, er lese immer nur die Adjektive – diesmal hoffte er auf »schockierend« und »gewagt«, ja sogar »schändlich« würde ihm zupasskommen. Wir sind hier, um für Wirbel zu sorgen, hatte er seiner Truppe eröffnet. Wir werden ihnen einen Shakespeare zeigen, der ebenso abgründig und irdischen Gelüsten zugeneigt ist wie der Verfasser der Sonette. Der süße Schwan vom Avon hat sich in einer Kloake gesuhlt.
Lysander zog weiter seine Runden. Er aß ein paar Häppchen und plauderte mit einigen Schauspielerkollegen sowie deren Freunden, ohne Gilda aus den Augen zu verlieren, die sich in die andere Richtung bewegte, gegen den Uhrzeigersinn. Es war bereits nach Mitternacht. Er ging zum Tresen und bestellte einen Brandy mit Soda.
»Hätte der nette Herr mal Feuer für mich?« Unverkennbarer Cockney-Akzent. Lysander drehte sich um.
Vor ihm stand Gilda mit erhobener Zigarettenspitze aus Jett. Sie kam ihm etwas beschwipst vor. Er zückte sein
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