Eine große Zeit
dürfte ihm die Zunge lösen.«
»Sehr lustig.«
Massinger legte Messer und Gabel aus der Hand und musterte ihn, beinah gehässig, was Lysander aus der Fassung brachte.
»Damit ist es mir bitterernst, Rief. Sie müssen Genf mit diesem Codeschlüssel verlassen. Andernfalls brauchen Sie gar nicht erst zurückzukommen.«
»Hören Sie –«
»Wissen Sie eigentlich, was hier auf dem Spiel steht?«
»Sicher. Verräter, Führungsstab und so weiter. Ich weiß Bescheid.«
»Dann tun Sie Ihre Pflicht als britischer Soldat.«
Nach dem Abendessen unternahm Lysander zur Beruhigung einen kleinen Spaziergang am Hafen und rauchte eine Zigarette. Er blickte über den weiten See – Lac Léman, wie er auf französischer Seite hieß – auf die dunklen Schweizer Berge, die er im Zwielicht erahnen konnte. Am Abendhimmel zeichnete sich ein eigentümliches Strahlen ab, das zwischen blassestem Blau und Grau changierte – Alpenglühen , so nannte man das, eine einzigartige Verbindung von Tälern, die sich bei Sonnenuntergang rot färbten, und golden leuchtenden Bergkuppen. Lysander verspürte eine gewisse Aufregung – morgen würde er gleich mit der ersten Fähre nach Genf übersetzen und nur zu gern vom reizbaren, kleinmütigen Massinger Abschied nehmen. Jenseits des dunklen stillen Wassers harrte seiner Phase zwei, wie Fyfe-Miller sicher genüsslich bemerkt hätte. Lysander war bereit.
Auf dem Rückweg ins Hotel musste er wieder an die Manchesters denken und an seine flüchtige Erfahrung des Grabenkriegs. Er dachte an die ebenso flüchtigen, aber intensiven Bekanntschaften, die er geschlossen hatte – Foley, Dodd, Wiley und Gorlice-Law. Während er durch die Straßen von Thonon schlenderte, kamen sie ihm so vertraut vor wie alte Freunde, er erinnerte sich so lebhaft an sie wie an Familienangehörige. Ob er sie jemals wiedersehen würde? Wohl nicht. Solche abrupten Trennungen brachte der Krieg mit sich, doch diese Einsicht schenkte ihm keinen Trost. Im Hotel wurde ihm mit dem Zimmerschlüssel auch eine Nachricht von Massinger übergeben. Er wollte Lysander daran erinnern, dass seine Fähre um 6.30Uhr in der Frühe ging, und ihm mitteilen, dass er ihn nicht zum Hafen begleiten würde, da er unpässlich sei.
Das Hôtel Touring de Genève war eine herbe Enttäuschung. Der beinah schon zwei Jahre währende Krieg hatte dem üblichen Publikumsverkehr – Touristen, Bergsteiger, Kurgäste – , auf den ein solches Etablissement angewiesen war, den Garaus gemacht. Die Stimmung in der Lobby hatte etwas Defätistisches an sich, allem Anschein nach wurde sie nicht mehr geputzt, überall lag Staub, die Papierkörbe waren voll. Auf der kleinen Terrasse verdorrten die Geranien in ihren Töpfen, und das im Frühsommer. Von den achtzig Hotelzimmern waren nur fünf besetzt. Selbst die unverhoffte Ankunft eines neuen Gastes, der auf unbestimmte Zeit bleiben wollte, konnte die Rezeptionistin nicht aufheitern.
An seinem ersten Abend war er im Speisesaal der einzige Gast. Der Kellner sprach nur gebrochen Deutsch (und stellte ihm ein paar Fragen zu Zürich, die er ausweichend beantwortete). Lysander erkannte nun, warum Munro ausgerechnet diese Tarnung für ihn ausgesucht hatte – als deutschsprachiger Schweizer Eisenbahningenieur, der in der französischsprachigen Schweiz in einem zweitklassigen Hotel wie das Touring abstieg, war Abelard Schwimmer eine vollkommen gewöhnliche, unauffällige Erscheinung – geradezu unsichtbar.
Das Hotel befand sich am linken Ufer, zwei Häuserblöcke vom See entfernt, in einer trambefahrenen Geschäftsstraße. An seinem ersten Morgen kaufte Lysander ein Paar schwarze Schuhe, einige weiße Hemden sowie zwei Seidenkrawatten und ersetzte den Homburg durch einen Panamahut. Nachdem er sich umgezogen hatte, fühlte er sich wieder wie er selbst – ein gutgekleideter Engländer auf Reisen – , aber dann fiel ihm ein, dass er damit den Sinn und Zweck seiner Mission verfehlte. Er schlüpfte erneut in die braunen Schuhe und setzte den Homburg auf, brachte es jedoch nicht über sich, eine vorgebundene Fliege anzulegen.
Um 10.30 Uhr ging er in die Taverne des Anglais, wo er im Lauf der vorgeschriebenen Stunde zwei Gläser Münchner Helles trank. Während dieser Wartezeit sprach ihn niemand an, auch am Nachmittag ab 16.30 Uhr nicht. Abends ging er ins Kino und sah sich eine Komödie über einen verpatzten Banküberfall an, die ihm kein einziges Lächeln entlockte. Er fasste den Vorsatz, sich nach der Rückkehr in seinen
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