Eine große Zeit
Taverne saß, um eine weitere Stunde ungenutzt verstreichen zu lassen, und frustriert über dieses Kind nachdachte, das seins war und auch wieder nicht, dachte er zugleich darüber nach, wie albern und absurd diese Vorgehensweise war, mehr Spiel als Spionage. Er war auf dem See gerudert, im Kino gewesen und hatte ein Konzert in der Kathedrale gehört. Vielleicht würde er sich später eine Ausstellung ansehen oder sich einen Drink an der Bar des Beau-Rivage genehmigen und den »anrüchigen Damen« einen Korb geben.
Am Fenster saßen zwei junge, recht attraktive Frauen und tranken Tee. Lysander hatte den Eindruck, dass die eine immer wieder verstohlen zu ihm blickte, während er von seinem Bier trank. Aber nein, das wäre zu riskant, sogar im Rahmen dieses läppischen Spiels.
Jemand setzte sich an den Nebentisch und nahm ihm die Sicht. Eine Witwe, die schwarzen Krepp trug, dazu einen flachen Strohhut mit kleinem Halbschleier. Lysander winkte dem Kellner – noch ein Bier, dann ginge er.
Die Witwe drehte sich um und sah ihn an.
»Verzeihen Sie bitte, sind Sie Monsieur Dupetit?«, fragte sie auf Französisch.
»Ah … . Nein. Bedaure.«
»Aber Sie kennen sicher Monsieur Dupetit.«
»Ich kenne einen Monsieur Lepetit.«
Sie stand auf, um sich zu ihm zu setzen, und schlug ihren Schleier zurück. Lysander erblickte das Gesicht einer Frau über dreißig, das einst schön gewesen sein musste, bevor es zur kalten Maske der Resignation erstarrt war. Schwere Lider, eine gebogene römische Nase, der schmale Mund von zwei tiefen Furchen gleichsam in Klammern gesetzt. Er fragte sich, ob sie jemals lächelte.
»Wie geht es Ihnen?«, sagte sie und reichte ihm ihre in schwarze Spitze gehüllte Hand. Sie hatte einen zupackenden Griff, wie Lysander feststellte.
»Sind Sie gekommen, um mich zu ihm zu führen?«, fragte er.
»Zu wem?«
Er senkte die Stimme: »Freudenfeuer.«
»Ich bin Freudenfeuer.«
»Verstehe.«
»Hat Massinger Ihnen das nicht gesagt?«
»Zum Geschlecht hat er keine Angaben gemacht.«
Sie sah sich im Raum um, offenbar verärgert, so dass Lysander ihr Profil betrachten konnte. Ihre kleine Nase wies tatsächlich einen perfekten Bogen auf, wie bei einem Kaiser auf einer römischen Münze oder dem gefangenen Indianerhäuptling, den er einmal auf Fotos gesehen hatte.
»Ich bin Madame Duchesne«, sagte sie. »Sie sprechen hervorragend Französisch.«
»Danke. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«
»Einen kleinen Dubonnet. Wir können hier gefahrlos reden.«
Sie kam gleich zur Sache. Am nächsten Morgen würde sie ihn um zehn im Hotel abholen und ihm die Wohnung des Konsularbeamten zeigen. Ein Junggeselle namens Manfred Glockner. Für gewöhnlich brach er gegen Mittag ins Konsulat auf und kehrte am späten Abend nach Hause zurück. Sie wusste zwar nicht, welche offiziellen Aufgaben er innehatte, beschrieb ihn aber als »stilvollen Herrn mit intellektueller Aura«. Als er plötzlich Briefe aus England erhielt, wurde sie neugierig und beschloss, der Sache nachzugehen. Die ersten drei hatte sie verpasst, doch die folgenden sechs konnte sie alle öffnen. Insgesamt waren es neun Briefe in acht Monaten gewesen, von Oktober 1914 bis Juni 1915.
»Sie haben die Briefe geöffnet?«, hakte Lysander nach. »Arbeiten Sie denn auch beim Konsulat?«
»Nein. Mein Bruder leitet hier in Genf die zentrale Postdienststelle. Er bringt mir alle Briefe, um die ich ihn bitte. Ich öffne und lese sie, fertige Kopien derjenigen an, die mir interessant erscheinen, dann klebe ich die Umschläge wieder zu und sie werden dem Adressaten übermittelt. So mache ich es mit allen Briefen, ob sie eingehen oder ausgehen.«
Kein Wunder, dass Massinger so große Stücke auf seine Agentin hielt, dachte Lysander.
»Wie gelingt es Ihnen, die Briefe zu öffnen, ohne dass es jemand merkt?«
»Das ist mein Geheimnis«, antwortete sie. Andere hätten hier vielleicht zufrieden gelächelt, aber Madame Duchesne reckte nur leicht herausfordernd das Kinn. »Es hat mit der Anwendung extremer Temperaturen zu tun. Trockene Hitze, trockene Kälte. Nach kurzer Zeit springen die Umschläge von allein auf. Ganz ohne Dampf. Sobald ich sie gelesen habe, klebe ich sie mit Leim wieder zu. Es gibt nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sie geöffnet wurden.«
Sie holte ein paar Papierbögen aus ihrer Handtasche hervor.
»Das sind die sechs Glockner-Briefe.«
Lysander blätterte sie durch: sechs dicht mit Zahlen beschriebene Seiten, wie diejenige, die er
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