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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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verschifft und dann mit dem Zug nach Abbeville gebracht werden sollten; in Borre wurde ein Lokschuppen errichtet; ein neues Furagedepot in Mautort; es gab eine Gleisübersicht vom Verkehrsamt in Abbeville; eine Auflistung sämtlicher Remonten, die im Mai von England aus an die Erste Armee geschickt wurden. Manche dieser Fakten und Zahlen waren den Generalstabsoffizieren in Frankreich sicher bekannt, doch das Spektrum und die Brisanz der Informationen, die in den Glockner-Briefen enthüllt wurden, zeugten – soweit Lysander das in seiner Ignoranz beurteilen konnte – von einer deutlich übergeordneten Rolle im Transport- und Logistikwesen, mit Augenmerk auf das britische Expeditionscorps an der Westfront. Lysanders Einschätzung nach saß der Verfasser dieser codierten Briefe nicht im Führungsstab von General Sir John French in Saint-Omer, sondern fern aller Gefahren in der Londoner Heimat, entweder im Kriegs- oder im Bewaffnungsministerium.
    Er legte den Füller aus der Hand und griff mit einigem Unbehagen zum Schlüsseltext – Andromeda und Perseus . Ein prüfender Blick auf das Titelblatt zeigte zu seiner Erleichterung, dass es sich nicht um die gleiche Ausgabe handelte wie seine. Diese war 1912 in Dresden erschienen, ein Jahr vor seiner Wienreise, und ihr Umschlag war nicht illustriert, sondern nannte nur Titel und Autor. Er wusste, dass die verhängnisvolle Wiener Inszenierung von Tollers Oper nicht die erste gewesen war, die Uraufführung hatte vermutlich in Dresden stattgefunden, dort, wo dieses Exemplar veröffentlicht worden war …
    Ein böser Zufall? Nein, ausgeschlossen. Wenn man es auf einen möglichst obskuren Text anlegte, konnte man sicher keinen ausgefalleneren finden als Andromeda und Perseus . Doch je länger Lysander über die mögliche Provenienz des Schlüssels für den SZWB-Code nachdachte, desto größer wurde seine Verwirrung. Warum diese völlig unbekannte Oper? Und wie konnte es sein, dass ausgerechnet er diesem Geheimnis auf die Spur kam? Die einzige Person, von der er wusste, die ebenfalls ein Exemplar des Librettos besaß, war Lysander Rief. Der Gedanke war ihm unangenehm. Was ließe sich daraus folgern?
    Es war müßig, sich diesen Spekulationen länger hinzugeben. Er musste nach Hause fahren, um die Auswirkungen seiner Entdeckung eingehend mit Munro und Fyfe-Miller zu erörtern. Von Genf aus konnte er an einem Sonntagnachmittag nicht viel tun – das Hôtel des Postes hatte seit zwölf geschlossen, so dass er bis morgen warten musste, um ein Fernschreiben an Massinger in Thonon zu schicken. Er würde um sieben zur Post gehen, sobald sie öffnete. Lysander steckte die Transkriptionen der sechs Briefe in einen Umschlag, versiegelte ihn und schrieb darauf seinen Namen und die Adresse von Claverleigh Hall. Die Details wollte er für sich behalten, bis er entschieden hatte, was er über den Schlüsseltext preisgeben – oder auch nicht preisgeben – würde.
    Am späten Nachmittag ging er spazieren. Eigentlich hätte er sich gern mit Florence Duchesne über diese Angelegenheit unterhalten – ganz diskret – , aber er kannte ja ihre Adresse nicht. Vielleicht war es ohnehin das Beste, wenn sie so wenig wie möglich wusste.
    Er fuhr mit der Tram über die Arve und stieg an einem der Eingänge zum Bois de la Bâtie am anderen Stadtufer aus. Dort lief er in den dichten Wald und verließ den Pfad, um ein abgeschiedenes Plätzchen zu finden – fern von Spaziergängern oder Familien beim Picknick – , wo er Glockners Andromeda-und-Perseus -Ausgabe geduldig Seite um Seite verbrannte. Dann stampfte er das Häufchen zarte Asche mit aller Kraft in den Boden, als bestünde die Gefahr, dass man ihre ursprüngliche Form wiederherstellen und sie lesbar machen könnte. Inzwischen war Lysander davon überzeugt, dass er den Schlüsseltext um jeden Preis für sich behalten musste – warum, wusste er nicht so recht, doch während ihm im Kopf noch zahllose Fragen und Antworten umherspukten, hatte er intuitiv bereits einen bestimmten Kurs eingeschlagen. Er würde das Geheimnis wahren, ohne jeden Mitwisser – wie konnte man ausschließen, dass andere etwas preisgäben, und sei es aus Versehen? Natürlich würde Massinger ihn als Erstes danach fragen, aber bis dahin hatte Lysander reichlich Zeit, sich eine glaubhafte Geschichte einfallen zu lassen.
    An der Anlegestelle aß er in einer Brasserie ein Omelett, bevor er sich die Abfahrtszeiten der Expressdampfer anschaute, die auf dem See Tagesrundfahrten

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