Eine handvoll Dunkelheit
werde sie holen.«
Sie richtete sich auf und trat an den Bücherschrank. Als sie die Tür öffnete, murmelte Bubber: »Mrs. Drew, mein Vater sagt, daß ich Sie nicht mehr besuchen darf. Er sagt, heute ist es das letzte Mal. Ich dachte, ich sollte es Ihnen sagen.«
Sie verharrte, stand reglos da. Alles schien sich um sie zu drehen, und das Zimmer kreiste wild. Voller Furcht holte sie Atem. »Bernard, du ... du wirst nicht wiederkommen?«
»Nein, mein Vater hat es mir verboten.«
Stille trat ein. Die alte Dame ergriff ein Buch, das etwas am Rande stand, und kehrte langsam zu ihrem Sessel zurück. Nach einer Weile reichte sie ihm das Buch, und ihre Hände zitterten dabei. Der Junge nahm es gleichgültig an und betrachtete den Umschlag.
»Lies bitte, Bernard. Bitte.«
»In Ordnung.« Er schlug das Buch auf. »Wo soll ich anfangen?«
»Wo du willst, Bernard. Wo du willst.«
Er begann zu lesen. Es war ein Buch von Trollope; nur halb nahm sie die Worte wahr. Sie legte ihre Hand auf die Stirn, die trockene, faltige, dünne Haut, die an altes Papier erinnerte. Sie zitterte vor Angst. Zum letztenmal?
Bubber las langsam, monoton weiter. Eine Fliege prallte summend gegen die Fensterscheibe. Draußen ging die Sonne unter, und eine frische Brise kam auf. Einige Wolken erschienen, und der Wind rauschte heftig in den Bäumen.
Die alte Dame saß da, dicht bei dem Jungen, näher denn je, hörte ihm beim Lesen zu, lauschte dem Klang seiner Stimme, fühlte seine Gegenwart. War dies wirklich das letzte Mal? Entsetzen keimte in ihr auf, und sie rang es nieder. Zum letztenmal! Sie sah ihn an, den Jungen, der so nah bei ihr saß. Nach einer Weile streckte sie ihre dünne, trockene Hand aus. Sie holte tief Luft. Er würde niemals wiederkommen. Nie wieder würde er sie besuchen, niemals. Heute saß er zum letztenmal bei ihr.
Sie berührte seinen Arm.
Bubber blickte auf. »Was ist?« murmelte er.
»Dich stört es doch nicht, wenn ich deinen Arm anfasse, oder?«
»Nein, ich glaube nicht.« Er las weiter. Die alte Dame konnte seine Jugend fühlen, wie sie zwischen ihren Fingern und durch ihren Arm floß. Eine pulsierende, vibrierende Jugend ganz in ihrer Nähe. Nie war er ihr so nah gewesen, daß sie ihn berühren konnte. Das Leben, das ihn erfüllte, machte sie benommen und unruhig.
Und schließlich geschah es wieder. Sie schloß die Augen, gab sich dem hin, wie es sie durchströmte, übertragen von dem Klang seiner Stimme und der Berührung seines Armes. Die Veränderung und die Glut überwältigten sie, das warme, erhebende Gefühl. Sie erblühte neu, saugte das Leben auf, verlor ihre Gebrechlichkeit und wurde wieder zu dem, was sie vor langer Zeit gewesen war.
Sie sah ihre Arme an. Sie hatten sich gerundet, und die Fingernägel glänzten wieder. Ihr Haar. Wieder schwarz, dicht und schwarz. Sie berührte ihre Wangen. Die Falten waren verschwunden, die Haut war geschmeidig und weich.
Glück erfüllte sie, wachsendes, übermächtiges Glück. Sie blickte sich um, betrachtete das Zimmer. Sie lächelte, spürte ihre festen Zähne und Gaumen, rote Lippen, kräftige weiße Zähne. Plötzlich stand sie auf, und ihr Körper reagierte flink und zuverlässig. Sie drehte sich langsam im Kreis.
Bubber hörte auf zu lesen. »Sind die Kekse fertig?« fragte er.
»Ich werde nachschauen.« Ihre Stimme klang weich und voll, war von einer Frische, die sie seit vielen Jahren verloren hatte. Nun war sie wieder da, ihre Stimme, kehlig und sinnlich. Sie ging schnell in die Küche und öffnete den Backofen. Sie holte die Kekse heraus und legte sie oben auf den Ofen.
»Sie sind fertig«, rief sie fröhlich. »Komm und hol sie dir.«
Bubber kam ihr nach, und sein Blick war auf die Kekse gerichtet. Er bemerkte nicht einmal die Frau, die neben der Tür stand.
Mrs. Drew eilte aus der Küche. Sie betrat das Schlafzimmer und schloß hinter sich die Tür. Dann drehte sie sich und betrachtete sich in dem mannshohen Spiegel an der Tür. Jung – sie war wieder jung, erfüllt von der Lebendigkeit der Jugend. Sie holte tief Atem, und ihre festen Brüste wogten. Ihre Augen blitzten, und sie lächelte. Sie drehte sich, und ihr Kleid flatterte. Jung und anziehend.
Und diesmal war es nicht wieder verschwunden.
Sie öffnete die Tür. Bubber hatte sich den Mund und die Taschen vollgestopft. Er stand in der Mitte des Wohnzimmers, und sein fettes, benommenes Gesicht war kalkweiß.
»Was ist los?« fragte Mrs. Drew.
»Ich gehe jetzt.«
»In Ordnung, Bernard.
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