Eine Handvoll Dunkelheit
hysterisch. Sie machte sich von ihm los und wich zurück in den verschmorten Kreis, den die Engel bei ihrem Aufstieg zum Himmel hinterlassen hatten. „Ich kann nichts dagegen tun“, schrie sie. „Ich gehöre zu ihnen. Sie sind meine Familie, mein Volk. Vergangene Generationen.“
„Wie meinst du das?“
„Sie sind meine Vorfahren. Und eines Tages werde ich zu ihnen gehen.“
„Du bist eine kleine Hexe!“ brüllte Rick wutentbrannt.
„Nein“, widersprach Silvia. „Keine Hexe, Rick. Verstehst du denn nicht? Ich bin eine Heilige.“
In der Küche war es warm und hell. Silvia schaltete die Kochplatte ein und holte eine große rote Kaffeekanne aus dem Geschirrschrank über der Spüle. „Du darfst nicht auf sie hören“, sagte sie, als sie die Teller und Tassen auf den Tisch stellte und im Kühlschrank nach der Sahne suchte. „Du weißt, daß sie es nicht verstehen. Schau sie doch nur an.“
Silvias Mutter und ihre Schwestern, Betty Lou und Jean, standen dicht zusammengedrängt im Wohnzimmer, verängstigt und wachsam, und beobachteten die jungen Leute in der Küche. Walter Everett lehnte mit leerem, ausdruckslosem Gesicht neben dem Kamin.
„Hör mir zu“, sägte Rick. „Du hast diese Kraft, sie anzulocken. Du meinst, du bist nicht – ist Walter nicht dein wirklicher Vater?“
„Oh, ja – natürlich ist er das. Ich bin vollkommen menschlich. Sehe ich denn nicht wie ein Mensch aus?“
„Aber du bist die einzige, die diese Macht besitzt.“
„Körperlich unterscheide ich mich absolut nicht von allen anderen Menschen“, murmelte Silvia nachdenklich. „Ich habe die Gabe des Sehens, das ist alles. Andere besaßen sie schon vor mir – Heilige, Märtyrer. Als ich noch ein Kind war, hat mir meine Mutter die Geschichte der heiligen Bernadette vorgelesen. Weißt du noch, wo sich ihre Höhle befand? Neben einem Krankenhaus. Sie schwebten dort herum, und sie sah einen von ihnen.“
„Aber das Blut! Es ist grotesk. Noch nie hat jemand davon gehört.“
„Oh, doch. Das Blut zieht sie an, vor allem Lammblut. Sie kreisen über den Schlachtfeldern. Deshalb schneiden und verletzen sich Heilige und Märtyrer. Weißt du, wie ich auf diesen Gedanken kam?“
Silvia band sich eine kleine Schürze um und füllte Kaffeepulver in die Kaffeemaschine. „Als ich neun Jahre alt war, las ich bei Homer davon, in der Odyssee. Odysseus schaufelte einen Graben aus und füllte ihn mit Blut, um die Geister anzulocken. Die Schatten aus der anderen Welt.“
„Das stimmt schon“, bestätigte Rick „Ich erinnere mich.“
„Die Geister der Verstorbenen. Sie haben einst gelebt. Jeder lebt hier, stirbt dann und geht dorthin.“ Ihr Gesicht glühte. „Wir werden alle Flügel bekommen! Wir werden alle fliegen können. Wir werden von Feuer und Macht erfüllt sein – und keine Würmer mehr.“
„Würmer! Das sagst du immer zu mir.“
„Natürlich bist du ein Wurm. Wir sind alle Würmer – klebrige Würmer, die über die Erdkruste kriechen, durch Staub und Dreck.“
„Warum sollte Blut sie herbeirufen?“
„Weil es das Leben ist, und vom Leben werden sie angezogen. Blut ist uisge beatha – das Wasser des Lebens.“
„Blut bedeutet Tod. Wenn man viel Blut verliert …“
„Es ist nicht der Tod. Stirbt eine Raupe, wenn sie sich in ihrem Kokon verpuppt?“
Walter Everett stand im Türrahmen. Er stand da und hörte mit finsterem Gesicht seiner Tochter zu. „Eines Tages“, sagte er heiser, „eines Tages werden sie sie packen und forttragen. Sie will mit ihnen gehen. Sie wartet auf diesen Tag.“
„Siehst du?“ wandte sich Silvia an Rick. „Er versteht es ebenfalls nicht.“ Sie nahm die Kanne von der Warmhalteplatte. „Möchtest du Kaffee?“ fragte sie ihren Vater.
„Nein“, wehrte Everett ab.
„Silvia“, begann Rick und sprach mit ihr wie mit einem Kind, „wenn du mit ihnen fortgehst, dann wirst du nicht mehr zu uns zurückkehren können, das weißt du doch.“
„Wir alle müssen früher oder später nach drüben. Es ist ein Teil unseres Lebens.“
„Aber du bist erst neunzehn“, wandte Rick ein. „Du bist jung und gesund und schön. Und unsere Hochzeit – was ist mit unserer Hochzeit? Silvia, du mußt damit aufhören!“
„Ich kann nicht damit aufhören. Ich war sieben, als ich sie zum erstenmal sah.“ Silvia stand an der Spüle und hielt die Kanne in der Hand, und ihre Augen blickten in die Ferne. „Erinnerst du dich, Vati? Wir wohnten noch in Chicago. Es war Winter. Ich stürzte
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