Eine Handvoll Dunkelheit
auf dem Heimweg von der Schule.“ Sie hob ihren schmalen Arm. „Siehst du die Narbe? Ich stürzte und schnitt mich an einem Kiesel im Schneematsch. Ich kam weinend nach Hause – es graupelte, und der Wind pfiff um mich herum. Mein Arm blutete, und mein Fausthandschuh war blutdurchtränkt. Und dann schaute ich nach oben und sah sie.“
Schweigen herrschte.
„Sie wollen dich“, sagte Everett unglücklich. „Sie sind Fliegen – Schmeißfliegen, die um dich herumsummen und auf dich warten. Die dir zuflüstern, mit ihnen zu kommen.“
„Warum auch nicht?“ Silvias graue Augen leuchteten, und ihre Wangen glühten vor Freude und Sehnsucht. „Du hast sie gesehen, Vati. Du weißt, was das bedeutet. Verwandlung – von einem Menschen in einen Gott!“
Rick verließ die Küche. Im Wohnzimmer standen die beiden Schwestern neugierig und nervös beieinander. Mrs. Everett hielt sich im Hintergrund, mit steinernem Gesicht, und ihre Augen hinter der Nickelbrille waren erloschen. Sie wandte sich ab, als Rick an ihnen vorbeiging.
„Was ist dort draußen geschehen?“ fragte Betty Lou ihn im gespannten Flüsterton. Sie war fünfzehn, dünn und flach, mit hohlen Wangen und strähnigen, sandfarbenen Haaren. „Silvia läßt uns nie mitkommen.“
„Nichts ist geschehen“, erwiderte Rick.
Verärgerung zeigte sich auf dem farblosen Gesicht des Mädchens. „Das stimmt nicht. Ihr seid beide hinaus in den Garten, in die Dunkelheit gegangen, und …“
„Sprich nicht mit ihm!“ schnappte ihre Mutter. Sie zerrte ihre beiden Mädchen fort und warf Rick einen haßerfüllten, unglücklichen Blick zu. Dann wandte sie sich rasch von ihm ab.
Rick öffnete die Kellertür und schaltete das Licht ein. Langsam stieg er hinunter in den kalten, feuchten Betonraum mit seinem Schmutz und der unverkleideten gelben Glühbirne, die an staubbedeckten Drähten von der Decke hing.
In einer Ecke glühte der große Brenner der Fußbodenheizung mit seinen gewaltigen Heißluftrohren. Daneben stand der Wasserboiler und lagen verschnürte Bündel, Buchstapel, Zeitungen und alte Möbel, verstaubt und von Spinnweben überzogen.
An der gegenüberliegenden Seite befanden sich die Waschmaschine und eine Wäschespinne. Und Silvias Kühlsystem.
Von der Werkbank nahm Rick einen Hammer und zwei schwere Brechstangen. Er näherte sich den großen Tanks und den Röhren, als plötzlich Silvia auf der obersten Treppenstufe erschien, in ihrer Hand die Kaffeetasse.
Rasch eilte sie zu ihm hinunter. „Was treibst du hier unten?“ fragte sie, während sie ihn forschend musterte. „Was willst du mit dem Hammer und den Brechstangen?“
Rick warf die Werkzeuge wieder auf die Bank. „Ich dachte, daß ich damit vielleicht das Problem von Grund auf lösen könnte.“
Silvia stellte sich zwischen ihn und die Tanks. „Ich dachte, du würdest verstehen. Sie waren schon immer ein Teil meines Lebens. Als ich dich zum erstenmal mit mir nahm, schienst du zu verstehen, was …“
„Ich möchte dich nicht verlieren“, erklärte Rick heiser. „An nichts und niemanden – in dieser Welt oder jeder anderen. Ich werde dich nicht aufgeben .“
„Es geht nicht darum.“ Sie verengte die Augen. „Du bist hier heruntergekommen, um alles zu zerstören und kaputtzumachen. In dem Moment, da ich nicht achtgebe, wirst du all das hier zerschlagen, nicht wahr?“
„So ist es.“
Der Zorn auf dem Gesicht des Mädchens wich der Furcht. „Willst du mich hier anketten? Ich muß weitermachen – dieser Teil der Reise liegt bereits hinter mir. Ich bin schon lange genug auf dieser Welt.“
„Kannst du nicht warten?“ fragte Rick heftig. Es gelang ihm nicht, den schrillen, verzweifelten Ton aus seiner Stimme zu verbannen. „Kommt es denn nicht noch früh genug?“
Silvia zuckte die Achseln und wandte sich ab, die Arme verschränkt, die roten Lippen fest zusammengepreßt. „Du willst immer ein Wurm bleiben. Eine haarige, kleine, kriechende Raupe.“
„Ich will dich .“
„Du kannst mich nicht haben !“ Wütend fuhr sie herum. „Ich kann meine Zeit nicht damit verschwenden.“
„Dir schweben höhere Dinge vor, wie?“ bemerkte Rick beißend.
„Natürlich.“ Sie beruhigte sich ein wenig. „Es tut mir leid, Rick. Erinnerst du dich an Ikarus? Auch du möchtest fliegen. Ich weiß es.“
„Zu gegebener Zeit.“
„Warum nicht jetzt? Warum warten? Du hast Angst.“ Geschmeidig entglitt sie ihm und schürzte listig die roten Lippen. „Rick, ich möchte dir etwas
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