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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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Schluchzen schienen die Soldaten nicht zu berühren. Mehrere Kinderhände halfen mir, auf die Beine zu kommen. Und als ich gerade Halt gefunden hatte, sah ich, wie in die andere Ecke des Wagens die Wolldecke mit Peterchen darin geworfen wurde. Ich kroch, so schnell ich zwischen den anderen Kindern hindurchkam, dorthin und fand meinen Bruder schließlich am Boden auf dem Stroh, mit dem der ganze Wagen ausgelegt war, zwischen den Füßen zweier Jungen, die sich angsterfüllt im Arm hielten. Peter schrie, wie ich ihn noch nie zuvor hatte schreien hören. »Schschsch«, machte ich. »Schschsch.« Ich hielt ihn, so fest ich konnte. Ein Soldat kam und warf ein paar Lebensmittel, Kleidung und noch mehr Decken auf den Wagen, auch die von Elsa mit den braunen Streifen am Rand. »Elsa«, flüsterte ich. Doch dann sah ich sie wieder vor mir mit dem Loch im Kopf, aus dem das Blut strömte. »Dawaj, dawaj, dawaj!« , riefen die Soldaten. Die Wagen setzten sich einer nach dem anderen in Bewegung, auch unser Lkw. Im Schritttempo wendete die Kolonne im Hof, und ich sah, dass alle Häuser und Ställe brannten. Männer, Frauen und auch ein paar Kinder lagen tot im Hof. Dazwischen kleine Feuerherde, dann stoppte der Wagen noch einmal kurz, und die Plane wurde heruntergelassen.

1944 bis 1948
Nach Russland verschleppt

    D ie Hilfeschreie und das Weinen von uns Kindern wurden von den Motorengeräuschen der Lkws geschluckt. Aber wer sollte uns schon hören? Wer sollte uns helfen? Es dämmerte bereits, und durch die schmalen Ritzen an den Seiten der Plane fiel kaum noch Licht. Hin und wieder drang für einen kurzen Moment orangeroter Lichtschein und der Geruch von Feuer und verkohltem Fleisch zu uns herein, und ich nahm die Umrisse der Kinder in meiner Nähe wahr, die sich die Hände vor den Mund hielten. Ich legte die Decke über Peters Gesicht und holte selbst erst wieder tief Luft, als wir eine ganze Weile durch die Dunkelheit gefahren waren.
    »Mama?« – »Papa?« – »Wo seid ihr?« – »Helft uns!« – »Wohin bringen die Männer uns?« – »Ich will nach Hause!« – »Wir haben Hunger!« – »Durst!« Die Rufe von uns Kindern wurden leiser, bald verstummten die Stimmen, nur das Wimmern, Jammern und Schluchzen blieb. Ich aber hatte eine Aufgabe: Ich musste auf Peter aufpassen. Er strampelte sich ständig frei und gab klagende Laute von sich. Als ich die Decke neu um ihn wickelte, fiel ein Fläschchen mit einem kümmerlichen Rest Milch heraus. Ich gab es Peter, doch die Tropfen machten ihn nur noch unruhiger. Ich verstaute die leere Flasche in einer Deckenfalte und begann zu singen. » Schlaf, Kindlein, schlaf, dein Vater hütet die Schaf. Deine Mutter schüttelt ’s Bäumelein, fällt herab ein Träumelein, schlaf, Kindlein, schlaf.« So hatte es Mama jeden Abend gesungen, erst für mich, dann auch für Peter.
    »Sing weiter«, bat ein Mädchen neben mir, als ich aufhören wollte, weil Peter endlich eingeschlafen war. Ich sang, bis mir die Augen vor Müdigkeit zufielen.
    »Nein, nein, nein!« Meine eigenen Schreie weckten mich.
    »Hast du bös geträumt?«, fragte das Mädchen neben mir.
    »Ja, ich hab nur bös geträumt.« Ich hatte im Traum Schüsse knallen gehört, hatte Opa gesehen, tot am Boden liegend, Oma. Das Blut, das Elsa aus dem Kopf floss. Ich zitterte mehr vor Kummer als vor Kälte. Peter in meinem Arm wärmte mich, tröstete mich. Er winselte im Schlaf wie ein kleiner Hund. Obwohl er neben seinem Gebrabbel auch schon ein paar Worte sprechen konnte, verstand ich ihn meist nicht. Dieses leise, traurige Winseln jetzt, das konnte ich verstehen. Ich hatte ihn lieb und wollte ihn beschützen.
    Immer mal wieder lugte ich durch einen Spalt zwischen den Planen hinaus, aber in der Dunkelheit der Nacht war nicht viel zu erkennen. Wohin man uns wohl brachte? Vielleicht nach Berlin? Vielleicht waren Peter und ich schon ganz bald bei Mama. Wartete sie auf uns? Mama … Es wurde Tag, und mit dem spärlichen Licht, das in das Innere des Lastwagens fiel, wurden die Kinder munterer. »Es stinkt!«, beklagten sie sich und versuchten, einen Platz mit trockenem Stroh zu finden, wir rutschten alle noch dichter zusammen. Jetzt begannen ein paar größere Kinder, die Decken und die Kleidung, die die Soldaten uns zugeworfen hatten, zu sortieren und die Lebensmittel aufzuteilen. Für eine kleine Weile erfüllte angeregtes Gemurmel die Ladefläche. Das Essen wurde verteilt, ich bekam eine große Handvoll Brot für mich und Peter. Ich

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