Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
Vom Netzwerk:
kaute es stückchenweise vor, weil es so hart war, und fütterte zuerst Peter mit den Breiklumpen. »Iss schön, mein Kleiner, iss schön«, sagte ich, »dann wird auch morgen das Wetter gut.« Das hatte Oma immer zu uns gesagt. Peter lächelte mich an und kaute brav, was ich ihm in den Mund steckte.
    Während der Fahrt zog ich die Plane immer mal wieder ein wenig zur Seite und sah nach draußen. Diesmal erblickte ich nichts als Schnee; vielleicht waren Wiesen unter dem weißen Teppich, hier und da stand ein Baum. Obwohl es nichts Besonderes zu sehen gab, konnte ich nicht aufhören hinauszuschauen. Ich blickte über die weite Fläche und sog die kalte Luft ein, die mir mit dem Fahrtwind in die Nase getrieben wurde. Als ich das Gesicht zurück ins Innere des Wagens zog, wurde mir übel. Der Gestank war nicht auszuhalten, ich ärgerte mich, weil ich mich selbst auch in einer Ecke erleichtert hatte. Wo hätte ich meine Notdurft auch sonst verrichten sollen? In die Hose machen kam nicht infrage. Ich beneidete Peter um seine Windel: Eine neue gab es für ihn jedoch nicht.
    Es war noch hell, als der Lastwagen mit einem Ruck anhielt. Wo waren wir? Berlin? Waren wir jetzt bei Mama? Die Plane wurde hochgerissen, und meine Augen mussten sich erst an das Tageslicht gewöhnen; dann erkannte ich eine große Schaufel, die ein Soldat hochhielt und uns zuwarf. Ich duckte mich vor Schreck und konnte gerade noch den Arm über Peter halten, als der Stiel meinen Rücken streifte. Der Soldat brüllte etwas in der fremden Sprache und machte hektische Bewegungen mit den Armen. Dann warf er noch einen Besen und eine Schaufel auf den Wagen. Zwei größere Jungen ergriffen sie und riefen: »Los, zur Seite, wir sollen das Stroh zusammenfegen!« Und da kamen auch schon ein zweiter und dritter Soldat mit frischen Strohballen. »Dawaj, dawaj!« , riefen sie. Was diese Worte wohl bedeuteten? Sollten wir uns beeilen? Ein Junge mit Fellmütze schaufelte neben uns das Stroh zusammen. »Los, helft mir, es runterzuwerfen!«, rief er. Ich drückte einem kleineren Mädchen neben mir Peter in den Arm und half mit, das feuchte, stinkende Stroh abzuladen. Als wir fertig waren, bekamen wir die neuen Ballen und verteilten alles, so gut es ging, unter uns am Boden. Voller Ekel rieb ich meine dreckigen Hände an dem hellen Stroh ab. Sie stanken nach Misthaufen.
    Später kam einer der Soldaten mit einem Eimer Wasser, auf den wir uns wie Tiere stürzten. Der Blecheimer drohte umzufallen. Die Soldaten lachten. »Das Wasser schwappt über, wenn ihr so drängelt!«, rief ein Junge und beugte sich schützend über die Öffnung. »Lasst uns nacheinander trinken! Jeder soll etwas bekommen!«, rief er. Und tatsächlich beruhigten wir anderen uns und gehorchten. Als ich an der Reihe war, trank ich nur wenig. Wie gern hätte ich einen großen Becher voll allein für mich gehabt! Dann gab ich Peter von dem Wasser. In diesem Moment fiel mir das Fläschchen ein. Ich zog es heimlich hervor und zeigte es dem Jungen, der den Eimer bewachte. Er nickte, und ich füllte ein wenig Wasser in das Fläschchen. An unserem Platz zurück, wickelte ich die Decke fest um Peter und das Fläschchen, aber so, dass nichts auslaufen konnte. Es erleichterte mich, zu wissen, dass ich Peter etwas zu trinken geben konnte, wenn er schrie. Doch Peter schrie nicht. Er weinte nicht mal mehr und winselte auch nicht. Er lag stumm und mit angstvollem Blick neben mir. »Schschsch«, machte ich.
    Die Fahrt ging weiter, und die Motorengeräusche und das Ruckeln ließen mich immer wieder einnicken, rissen mich aber auch immer wieder aus dem Schlaf. Draußen lag so viel Schnee, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Es ging oft nur langsam voran, doch die großen Räder schienen jedes Hindernis platt zu rollen.
    Es wurde mit jedem Tag immer noch kälter. Einmal klopfte laut Hagel gegen die Planen, der Wind zog durch jede noch so kleine Ritze; solch eine Eiseskälte hatte keines der Kinder bisher erlebt. Noch mehrere Male stoppte der Konvoi, und wir griffen jedes Mal gierig nach dem frischen Stroh, dem Wasser und dem Brot.
    Ich glaubte nicht mehr daran, dass wir nach Berlin fuhren. Einige Kinder behaupteten, wir würden nach Russland gebracht. Die Soldaten seien Russen. Ich kannte nur russische Soldaten mit Gewehren. Wo Russland lag, wusste ich nicht. Ich hatte schreckliche Angst vor diesem Land.
    Vor allem in den Nächten schreckte ich im Schlaf oft hoch, Oma … Opa … Elsa, ich sah sie vor mir auf dem Boden.

Weitere Kostenlose Bücher