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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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Hunger und Durst, und ich konnte meine Beine nicht bewegen.
    »Komm, Kind«, sagte die Frau in gebrochenem Deutsch zu mir und streckte mir ihre Hand entgegen. Zaghaft ergriff ich sie. Wie warm die Hand war … Die Frau zog mich zu sich heran und nahm mich auf den Arm. Ihre weichen Haare, die unter der Fellmütze hervorkamen, berührten meine Wange. Und wenn es doch meine Mama war? Ich wollte mich gerade fest an sie klammern, als sie mich auf dem Boden absetzte. »Lauf dorthin, Kind!«, sagte sie und wies in die Richtung, wo die anderen Kinder versammelt standen. »Aber mein Bruder ist noch auf dem Wagen. Du musst ihn holen«, sagte ich. Die Frau erblickte das Deckenbündel und zog es zu sich heran. »Peter war krank!«, rief ich. »Er muss nur etwas zu essen und zu trinken bekommen, dann wird er wieder gesund.«
    »Wird nicht gesund. Junge ist bald tot«, sagte sie, während sie ihn im Arm hielt. Und dann ging alles sehr schnell: Die Frau trug Peter fort, ich wollte mitgehen, aber ein Soldat kam und stieß mich zu den anderen Kindern hinüber. »Aber ich muss doch auf meinen Bruder aufpassen!«, rief ich und versuchte hinter der Frau herzulaufen. Der feste Griff des Soldaten zeigte mir, dass ich zu gehorchen hatte. Mehr stolpernd als laufend wandte ich mich immer wieder um. Die Frau war nicht mehr zu sehen. Jetzt hatte ich auch Peter verloren. Wie entrückt nahm ich mit tränenverhangenem Blick das Treiben um mich herum wahr. Von mehreren Lastwagen wurden unzählige Kinder abgeladen. Die Soldaten schienen sie nach Jungen und Mädchen zu sortieren, die einen mussten dorthin, die anderen dahin. Manche Kinder riefen Namen, sie suchten Geschwister oder Freunde oder wollten nicht von ihnen getrennt werden. Ob auf einem anderen Lastwagen Kinder vom Gutshof mitgekommen waren? Oder hatten sie alle tot im Hof gelegen wie die Kinder, die die Soldaten an den Armen von den Lastwagen zogen und in den Schnee warfen? Würde Peter, wenn er tot war, auch in den Schnee geworfen? Und wie kam er von dort zu Papa in den Himmel?
    »Dawaj, dawaj!« , rief ein Soldat. Und ich verstand, dass ich und die Mädchen um mich herum mitkommen sollten. Kleinere und größere, ein Dutzend bestimmt. Der Soldat schritt voran, ein anderer stieß uns von hinten in die Laufrichtung. Meine dünnen Beine bewegten sich vor Angst wie von selbst und liefen an einem Lastwagen vorbei auf lauter schwarze Holzhütten zu. Unheimlich sahen sie aus. Vor einer der Baracken in der ersten Reihe hielt der Soldat an und sagte etwas auf Russisch, was wir nicht verstanden. Er wollte die Tür öffnen, aber sie schien zu klemmen. Er schimpfte laut und riss noch einmal an dem verwitterten Griff. Das dunkle Loch, das sich auftat, schaute uns finster entgegen. Ich will da nicht rein! »Dawaj, dawaj!« , scheuchten uns die Soldaten. Widerwillig tippelten meine Füße vorwärts, meine Handflächen berührten den Rücken des Mädchens vor mir.
    Hinter uns fiel die Tür zu. Ich bekam im ersten Moment keine Luft, dann blieb sie mir kalt und stickig im Halse stecken. Wenn ich jetzt umfiele, dann könnten mich die Soldaten neben Peter in den Schnee legen. Ich musste husten, und meine Lungen füllten sich.
    »Warum sperren die uns hier ein?«, fragte ein Mädchen. Keine von uns wusste eine Antwort. Stumm standen wir da. Nur langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Das Erste, was ich erkannte, waren zwei Fenster, und ich blickte sehnsuchtsvoll zu den Schneeflocken draußen, die sanft im Abendwind hin und her tanzten. Aneinandergedrängt verharrten wir auf der Schwelle, als würde die Tür sogleich wieder aufgehen und jemand rufen: »Kommt, raus! War nur ein Spiel! Ihr dürft jetzt wieder nach Hause!« Ein Mädchen, eins von den Kleineren, begann zu weinen. Die Tür öffnete sich tatsächlich noch einmal, und ein Soldat hielt uns eine Lampe entgegen, die ein schummriges Licht verbreitete. Ein Mädchen nahm sie an, der Russe verschwand. Das Mädchen streckte den Arm mit der Lampe hoch, sodass das funzelige Licht den Raum immerhin ein wenig erhellte. In der Mitte gab es einen Ofen, dessen Rohr bis hoch zum Dach reichte. Neben dem Ofen lag Holz, und es stand ein Eimer an der Seite, auf dem Ofen war ein Topf. »Kommt her, hier ist es warm«, sagte ein Mädchen, das sich von der Gruppe gelöst hatte. »Aber das Feuer ist schon fast aus. Wir müssen Holz nachlegen, schnell.« Ich kam kaum einen Schritt von der Stelle und bekam keinen Platz mehr nah am Ofen, aber das war nicht

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