Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
dennoch nicht in der Lage, mich ihm zu entziehen, und er hätte es auch nicht zugelassen.
Eines Abends, als ich mit Mama allein im Wohnzimmer saß, begann sie ungewohnt vertraulich mit mir zu sprechen. »Papa hat sich verändert. Er trinkt nicht mehr so viel Alkohol, und wir streiten kaum noch. Ich glaube, sogar seine Frauengeschichten haben aufgehört.« Wurde ich jetzt rot? Merkte Mama, was ich gerade dachte? Mir war schlecht. Sollte ich ihr jetzt alles erzählen: Wie Papa mich im Keller vergewaltigt hatte, dass er mir wehgetan hatte, immer wieder, und dass er mich inzwischen benutzte, wann immer er wollte?
Ich schwieg.
»Weißt du, Monika, es war damals eine schwere Zeit für mich. Ich war als Flüchtling aus Preußen nach Bayern gekommen, und er … er war ein Held, einer der besten Skifahrer überhaupt. Und er sieht ja noch immer sehr gut aus … Ich wurde nach dem ersten Mal schwanger.« Warum erzählte sie mir das bloß alles? Ich wollte das gar nicht hören! Warum sprachen wir nicht über uns? Über meinen echten Papa? Über unsere Trennung? »Aber er hatte keinen Pfennig in der Tasche. Arm wie eine Kirchenmaus war Papa. Und so musste ich den Schmuck von deiner Oma Clausen verkaufen, dein Erbe. Wie hätten wir uns sonst mit einem Kind ein Leben aufbauen können?«
Ich schwieg noch immer. Was sollte ich auch sagen?
»Aber mach dir keine Sorgen, für dich ist trotzdem gesorgt.« Jetzt blickte ich sie neugierig an. »Ach, das ist eine andere Geschichte … Ein sehr reicher Mann, Karl Reuter, war Stammgast in unserem Hotel. Wir freundeten uns an, und ich erzählte ihm eines Abends von dir und dass ich für das Hotel deinen Schmuck veräußern musste. Er war sehr berührt von allem. Und dann hat er mir am nächsten Tag einen Brillantring geschenkt. Für deine Tochter, hat er gesagt. Sie wird dich finden.« Mama weinte, und ich weinte mit ihr. Wir weinten wohl, weil wir uns gefunden hatten. Aber es fühlte sich nicht fröhlich an. Vielleicht weinten wir auch, weil wir inzwischen spürten, dass wir unsere verlorenen Jahre nicht zurückbekommen würden. Und auch in den folgenden Monaten gab es nur selten solche nahen Momente zwischen uns. Meine Traurigkeit aber speiste sich hauptsächlich aus dem ständigen Missbrauch, der Scham und den Schuldgefühlen.
»Du und Papa, ihr werdet nach Winterberg ziehen.« Mama tupfte sich mit ihrer Serviette den Mund ab, Toni zwinkerte mir zu. Ich wusste nicht, wo dieser Ort lag, aber das war mir auch vollkommen gleichgültig. Ich wollte nirgendwohin allein mit Papa. »Wir haben ein Angebot: eine Gaststätte, genauer gesagt, eine Skihütte. Sie wollen unbedingt, dass Toni Brandt den Tourismus ankurbelt.« Mama lachte. »Und ich … ich komme mit den Kleinen sobald wie möglich nach.« Jetzt streichelte Toni über ihre Hand, und Mama legte ihre andere Hand auf seine. Solch eine liebevolle Geste hatte es zwischen den beiden schon ewig nicht mehr gegeben. Was war bloß los? Erst sollte ich allein mit ihm wegziehen, und dann … »Mama wird ein Kind bekommen.« Toni hatte es förmlich ausgerufen, und jetzt strahlte er in die Runde. Selbst Mama lächelte. Ich verstand das alles nicht mehr. Mir drehte sich der Magen um. »Entschuldigt«, konnte ich gerade noch hervorstoßen.
Schon bald danach wurde gepackt. Mama hatte mir noch einmal unter vier Augen erklärt, wie wichtig es sei, dass ich die Familie unterstütze und Toni helfe. Und dann versprach sie, so schnell wie möglich nachzukommen. Tapfer hielt ich beim Abschied meine Tränen zurück, aber mir war elend zumute.
Sektkorken knallten, als wir in Winterberg ankamen. Toni stellte mich dem Gaststättenbesitzer, der ihn als Pächter ins Rothaargebirge geholt hatte, als seine Große vor. Der ältere Mann führte uns in eine seiner Pensionen, wo wir umsonst wohnen durften, bis unser Wohnhaus nahe der Skihütte fertig war. Dann würde auch Mama kommen, redete ich mir immer wieder gut zu.
Für die Leute in Winterberg war ich die Tochter des großen Skifahrers. Für Papa war ich Arbeitstier, Putzfrau und Geliebte in einem. Für Mama war ich die wichtigste Stütze und weit, weit weg. Ich selbst hatte mich schon in Russland verloren, und hier in Winterberg würde ich sicher nicht zu mir selbst finden. Wie auch, wenn ich in aller Herrgottsfrühe aufstand, eine Gaststätte erst aufbaute, dann ans Laufen brachte und schließlich für die Gäste kochte, sie bediente, alles sauber hielt und dann am Abend, wenn dem betrunkenen Mann danach
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