Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
sollte ich sonst? Tante Maria und Onkel Werner hatte ich nur noch selten gesprochen, und sie würden wissen wollen, was vorgefallen war.
Ich hatte keinen Menschen außer meiner Mama. Und ich wollte gern bei ihr bleiben und hoffte immer noch, irgendwann endlich wieder ihre Liebe zu spüren. Die Angst vor Toni machte es jedoch unmöglich, unbeschwert in der Familie zu leben.
Und dann, eines späten Nachmittags, als die anderen zum Einkaufen unterwegs waren, fiel er abermals über mich her. Er musste schon am Tag getrunken haben, das sah ich in seinen Augen, noch bevor mir der schnapsschwere Atem ins Gesicht schlug.
Von da an stellte er mir nach, sobald Mama und die anderen uns den Rücken zudrehten. Er nutzte jede Gelegenheit, mich zu berühren, riss mich in seine Arme und küsste mich, wenn niemand hinschaute. Mein Zittern, meine Starre, wenn ich seine Hände an meinem Körper spürte, überging er. Er lachte und ließ mich stehen, wenn er genug hatte.
Ich legte mir, so gut es ging, einen Panzer um Herz und Seele und ertrug seine zahlreichen Übergriffe; es wurde fast zur Gewohnheit, so abgestumpft waren meine Gefühle inzwischen. Was konnte ich auch tun?
Immer öfter hörte ich abends Streit aus dem Elternschlafzimmer. »Fass mich nicht an!«, hörte ich Mama einmal rufen, und dann war dumpf ein schreckliches Gepolter zu hören. Ich war mit den Händen auf den Ohren schnell in mein Zimmer gelaufen und hatte die Tür verriegelt. Mama sprach eines Tages sogar von Scheidung, und danach herrschte plötzlich eine ganze Weile Ruhe. Die Streitereien der Eltern hörten auf, Toni trank weniger – und vor allem ich blieb verschont.
Seit der Verschleppung ins russische Lager hatte ich meinen Geburtstag nicht mehr gefeiert, zumindest nicht am Tag meiner Geburt. Heute war es so weit, es war der 29. November 1955. An diesem Tag wurde ich fünfzehn Jahre alt.
Als ich morgens zum Frühstückmachen in die Küche wollte, saßen alle schon im Wohnzimmer um den gedeckten Tisch und warteten auf mich. Selbst Toni war schon angezogen. Doch ich sah keins der Gesichter, die mich anlachten, mein Blick ruhte minutenlang auf der Schüssel mit den blankgeputzten roten Äpfeln, die an meinem Platz stand. Mein Herz machte einen Sprung: Kein anderes Geschenk hätte mir mehr Freude bereiten können.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Monika«, sagte Marion und hielt mir ein Blümchen hin, und Thomas legte seine dünnen Jungenarme um meinen Hals, nachdem ich mich zu ihm hinuntergebeugt hatte. Danach kam Mama auf mich zu, nahm mich in ihren Arm und begann zu weinen, als sie mir gratulierte. Sofort liefen auch mir die Tränen, und gleichzeitig genoss ich die Nähe und Wärme. Doch als würde ein Schalter umgelegt, schüttelte sie mich fast schon ab und sagte: »Papa will dir bestimmt auch noch gratulieren.« Und bevor ich mich entziehen konnte, hatte er auch schon meine Hand ergriffen, zog mich zu sich heran und küsste mich auf den Mund. Ich hörte für diesen Moment auf zu atmen. »Ich hoffe, dass wir uns immer verstehen und lieben werden, denn wir sind ja nun eine Familie.« Damit ließ er mich los.
Ich hatte nicht gewusst, wie er seine Worte meinte, doch während der Weihnachts- und Winterzeit – jetzt war Toni auch häufiger zum Skifahren unterwegs – kam es höchstens ein paar Mal zu einem Kuss oder einer heimlichen Berührung. Dies wollte ich trotz des Ekels und der Angst ertragen, wenn er mir nur nicht Schlimmeres antat.
Im neuen Jahr hatte Mama mich überraschend zur Berufsschule angemeldet. Doch bereits nach wenigen Wochen ging ich nur noch selten hin, weil der Haushalt für Annemarie nicht allein zu schaffen war. Mir war es auch recht, denn ich hatte so vieles nie gelernt, dass ich nach eigenem Empfinden im Vergleich mit den anderen Kindern und Jugendlichen in meinem Alter nur schlecht abschneiden konnte. Und ich schaffte es auch nicht, all den Lernstoff nachzuholen, sodass die Lücken in meinem Wissen allein schon beim Schreiben, Lesen und Rechnen offensichtlich blieben. Bei der Hausarbeit hingegen waren Annemarie und ich ein Spitzenteam. Wir waren gut organisiert, arbeiteten schnell und gründlich und kochten jedem auf Wunsch seine Leibspeise.
An einem warmen Tag im Mai packte Mama einen Wanderrucksack, und ich freute mich auf einen Familienausflug. Doch umso größer war die Enttäuschung, als nur Toni mit mir und den Kindern zum Freibergsee aufbrach. Dort breiteten wir eine große Decke aus und machten Picknick. Ich
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