Eine Hexe in Nevermore
schmutzigen, gemeinen Kampf. Er würde nur allzu gern auf etwas einschlagen.
»Das reicht!« Ember kam zu ihnen. »Wir sind hier nicht auf dem Spielplatz, und ihr seid keine Kinder. Wir haben wichtige Dinge zu erledigen.« Sie kniete sich neben Marcy und murmelte etwas Unverständliches, vielleicht ein Gebet, dann schloss sie dem Mädchen die Augen. Ihr Blick wanderte zum Sheriff. »Und sagen Sie mir ja nicht, ich soll das Beweismaterial nicht anfassen. Das arme Kind liegt hier auf der Straße wie ein weggeworfenes Taschentuch, und was macht ihr? Kriegt Wutanfälle wie zwei verwöhnte Jungs. Ihr solltet euch schämen!«
Taylor wandte den Blick ab und räusperte sich.
Gray schämte sich. Ember hatte recht. Er benahm sich wie ein Vollidiot. Mal wieder. Taylor machte seinen Job gut, auch wenn er etwas gegen die Rackmores hatte. Letztendlich konnte er aber darauf bauen, dass sein Freund das Richtige tat.
»Und nenn sie nie wieder Hexe, kapiert?«, sagte er. »Ihr Name ist Lucinda.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging zu seinem Schützling zurück. Lucinda bot einen traurigen Anblick – zitternd, sich in Krämpfen windend, schmutzig. Aber sie war tapfer.
Nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Sheriff gesellte sich Ember zu ihm.
»Benutzen Sie das Portal.« Sie sprach jetzt fast ohne hörbaren Akzent. Je stärker ihre Emotionen waren, desto deutlicher brach ihr Jamaikanisch durch. Offensichtlich hatte sie sich wieder im Griff – das könnte Gray auch nicht schaden. »Ich fahre Ihren Wagen nach Hause.«
»Danke.« Göttin im Himmel, er wollte Lucinda nicht anfassen. Es würde ihr unendliche Schmerzen bereiten. Gray sah Ember an und wusste, dass sie sein Dilemma nachvollziehen konnte. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«
»Tut mir leid.« Das dunkle Auge hinter dem lilafarbenen Brillenglas musterte ihn. »Sie sind doch ein Traumgänger, oder?«
Er starrte sie überrascht an. »Was?«
»Wie, was? Sie sind doch ein Drache, oder nicht?«
Ihn beschlich das seltsame Gefühl, dass sie damit nicht die Zugehörigkeit zum Haus der Drachen meinte. Ihm brach der kalte Schweiß aus. Er schüttelte den Kopf. Dann nickte er. Natürlich meinte sie sein Geschlecht, seine Herkunft. Was sonst könnte sie meinen?
Es waren fast ausnahmslos die Zauberer, die dem Drachenorden des Mondes angehörten, einer strengen religiösen Gemeinschaft, die sich dem Traumgehen verschrieben hatte. Das Traumgehen war eine komplizierte Angelegenheit, daher versuchten die meisten Drachen gar nicht erst, sich diese Fähigkeit anzueignen. Gray war bei den Aufnahmetests für die Highschool auf sein Talent zum Traumgehen geprüft worden und hatte gut abgeschnitten. In dem Sommer, bevor er in die neunte Klasse kam, schickte ihn seine Mutter daher nach Kalifornien, wo er in einem Kloster des Ordens die Kunst erlernte, in das Unterbewusstsein anderer Wesen einzudringen. Es war viele Jahre her, dass er diese Fähigkeit praktiziert hatte – und es barg ein Risiko. Allzu leicht verlor man sich in Träumen und vergaß die reale Welt.
»Ich kann nichts gegen ihre Schmerzen tun«, erklärte Ember leise. »Aber bald wird sie so erschöpft sein, dass sie schlafen kann – wenn auch nicht lange. Der Fluch ist zu stark, er gönnt ihr keine Erleichterung. Aber wenn Sie mit ihr durch ihre Träume gehen, verleiht ihr das neue Kraft und Hoffnung.«
Gray nickte, obwohl er sich nicht sicher war, ob ihm das gelingen würde. Doch es war einen Versuch wert, wenn er damit ihre Qualen lindern und ihr Halt bieten konnte, solange sie unter Francos Fluch litt.
»Nehmen Sie sie mit und gehen Sie«, ermutigte Ember ihn. »Nichts hilft ihr jetzt mehr als schnelles Handeln.« Sie hob ihre Hand, die Handfläche auf das Feld neben der Straße gerichtet. Im selben Moment spürte Gray eine Veränderung in der Atmosphäre, das Prickeln von starker Magie, und schon öffnete sich das Portal. Wie zum Teufel hatte Ember das gemacht? Für Portale benötigte man Schlüssel, und sie besaß keinen. Oder vielleicht doch? Einmal mehr wurde er an seine fatale Gleichgültigkeit erinnert.
Das werde ich wiedergutmachen. Bei jedem einzelnen Bewohner von Nevermore. Vor allem bei Lucinda.
Er holte tief Luft und bückte sich dann, um sie hochzuheben. Sie wimmerte, und sein Magen zog sich zusammen. Bitte hilf ihr, Göttin. Er ertrug es nicht, ihr wehzutun. Schnell rannte er über die Straße, bemüht, sie nicht allzu sehr durchzuschütteln.
Ihr Wimmern hatte sich in
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