Eine Hexe in Nevermore
Ich werde alles für dich tun.«
Irgendwie konnte er ihre Gedanken lesen. Vielleicht war das möglich, weil sie sich in seinem Traum befand. Das alles war irgendwie erniedrigend. Sie wollte nicht, dass er aus Mitleid mit ihr schlief. Tränen füllten ihre Augen bei dem Gedanken daran, was sie wirklich wollte und dass sie ausgerechnet Gray darum bitten musste. Trotzdem konnte sie ihre Worte nicht aufhalten. Sie hatte wirklich kein bisschen Stolz mehr.
»Halt mich einfach, Gray.«
Er ließ sich auf dem weichen warmen Sand nieder und zog sie mit sich. Dann nahm er sie in die Arme und setzte sie auf seinen Schoß. Wie ein schnurrendes Kätzchen rollte sie sich zusammen, das Gesicht an seine Brust gelehnt, und lauschte auf den Rhythmus seines Herzschlags.
»Lucinda«, flüsterte er und küsste sie auf die Schläfe. »Süße Lucinda.«
»Wenn du mich lüsterne Lucinda nennst, knall ich dir eine«, murmelte sie.
Er lachte, und das Geräusch in seinem Brustkorb klang wie ein fröhliches Donnergrollen. »Heute nenne ich dich mal nicht lüsterne Lucinda.« Er nahm sie fester in den Arm. »Aber wer weiß? Morgen riskiere ich es vielleicht.«
»Das wird dann deine Beerdigung«, sagte sie ernst, ihr Lächeln unterdrückend.
Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte sie sich geborgen.
Plötzlich schoss ein Blitz aus dem kitschig schönen pinkfarbenen Himmel und zerschmetterte sie. Von ihr blieb nichts weiter übrig als viele kleine verkohlte Stücke.
Sie hörte noch Grays wütenden Schrei, doch schon befand sie sich nicht mehr in seinen sicheren Armen. Er versuchte sie bei sich zu behalten – sie spürte seine Willensstärke und den starken Griff seiner Arme. Aber sie war bereits ein Geist, der nach oben stieg, und alles an ihr brannte. Sie stand in Flammen, in Flammen der Vergeltung.
Mit einem Schlag erwachte Gray. Er setzte sich auf und drehte sich zu Lucinda um, die sich neben ihm auf dem Bett krümmte. Ihre Augen waren geöffnet, starrten aber in die Ferne, ohne ihn wahrzunehmen. Aber irgendetwas sah sie. Hatte sie Visionen? Sorgte der Fluch dafür, dass ihre Gedanken verrücktspielten? Ihre Lippen zitterten, und Tränen rannen wie kleine Bäche über ihr Gesicht, während sie flüsterte: »Nein. Nein, tu ihr nichts. Ich werde alles tun. Bitte!«
»Verdammt noch mal!« Er kroch zu ihr rüber. Er wollte ihr so gern die Schmerzen nehmen. »Lucinda.«
Sie versteifte sich, dann wurde ihr Körper nach oben gerissen, und sie krümmte sich. Der Anfall war so heftig, dass er ihre Schultern aufs Bett drücken musste, damit sie nicht auf den Boden geworfen wurde. Als sie sich beruhigt hatte, ließ er sie sofort los. Ihr Hals zuckte stark, als wären ihre Schreie dort gefangen.
Noch nie hatte er einen Menschen derart leiden sehen. Nicht einmal er selbst hatte solche Qualen erlitten, als Kerren ihm den Dolch ins Herz rammte und ihrem Dämon seine Seele darbot. Neun Minuten hatte er gelitten, um sein Leben gekämpft. Neun Minuten. Aber Lucy hatte noch Stunden, ja Tage, vor sich.
Nein. Der Gedanke, sie allein zu lassen, gefiel ihm zwar nicht, aber er musste dringend mit Grit sprechen. Der alte Mann war gewieft wie kein anderer, und wenn irgendjemand wusste, wie man den Fluch außer Kraft setzen konnte, war er es. »Ich bin gleich zurück, Süße.«
Sie gab keine Antwort, aber das hatte er auch nicht erwartet.
Grit und Dutch waren immer noch in der Küche. Er unterbrach ihr Genörgel und erklärte ihnen rasch, was sich in den vergangenen Stunden ereignet hatte. Außerdem berichtete er ihnen, was er über Francos Fluch wusste.
»Dämonenmagie kann man nicht außer Kraft setzen, mein Junge«, erklärte Grit. »Es ist, wie Ember gesagt hat: Das muss Lucy jetzt durchstehen.«
»Ihre Königliche Deppheit hätte sie eben nicht abweisen sollen«, bemerkte Dutch. »Ich wette, das tut dir jetzt leid.«
»Halt die Klappe, oder ich schlag dich.« Gray betrachtete den blauen Einband des Surfers. Die Bücher hatten keine Augen, aber sehen konnten sie trotzdem. Er brauchte nicht daran erinnert zu werden, dass er sich wie ein Idiot benommen hatte. Möglicherweise hätte er Lucinda vor den Folgen des Fluchs bewahren können, wenn er sie aufgenommen hätte. Aber Marcy wäre trotzdem tot. Jetzt konnte er ihr nur noch seine Hilfe anbieten, mehr nicht.
»Hat das Traumgehen funktioniert?«, wollte Grit wissen.
»Ja. Aber sie kann nicht lange schlafen. Das ist bestimmt auch Teil des Fluchs. Franco wird dafür gesorgt haben, dass sie
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