Eine Hexe in Nevermore
waren ein uralter Zauber, den die Drachen einst eingerichtet hatten, um den Bewohnern von Nevermore einen schnellen Transport zwischen ihren Farmen und der Stadt zu ermöglichen. Eigentlich benutzte sie heute niemand mehr, und manche Portale existierten auch gar nicht mehr.
»Halt die Stellung. Ich bin gleich da.«
Plötzlich kam Gray eine – vielleicht abwegige – Idee. »Taylor?«
Ungeduld blitzte im Gesicht des Sheriffs auf. »Ja?«
»Bring Ember mit.«
Taylor riss staunend die Augen auf, widersprach aber nicht. Er nickte und verschwand. Kurze Zeit später verschwanden auch die Bilder in der Pfütze.
Als er wieder neben Lucinda stand, war sie klitschnass von Regen und Schweiß. Sie zitterte, und ihre Zähne klapperten. Sie hatte die Augen geschlossen, doch sie konnte ihren Qualen nicht entgehen. Dafür hatte Franco gesorgt.
»Gray?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Hier, Kleines. Ich bin hier.« Er setzte sich. Dass der Untergrund ungemütlich und nass war, interessierte ihn nicht. Wie gern würde er sie berühren! Ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen oder ihre Wange streicheln.
Sie schaute ihn an. Die dunklen Ringe unter ihren schmerzerfüllten Augen waren ein Abbild ihrer Erschöpfung und ihres Hungers. Gray erkannte erst jetzt, wie zerbrechlich sie war, wie dünn und bleich. Schon als sie am Nachmittag vor seiner Tür gestanden hatte, war sie kurz vor einem Zusammenbruch gewesen, und trotzdem hatte sie es geschafft, sich weiterzuschleppen.
Wie hatte er sie wegschicken können?
»Es tut mir so leid.« Niedergeschlagen sah sie ihn an, Tränen rannen ihr über das Gesicht. Sie erschauerte, und er merkte, wie schwer ihr das Sprechen fiel und dass es ihr noch mehr Schmerzen verursachte. Wieder meldete sich sein schlechtes Gewissen. Was war er nur für ein selbstgerechtes Arschloch gewesen!
»Das muss es nicht«, erwiderte er sanft. »Gar nichts muss dir leidtun.«
»Ich hätte nicht herkommen sollen.« Wieder krampfte sich ihr Körper zusammen. Sie stöhnte, ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
»Nicht sprechen!«, ermahnte er sie. In sanfterem Ton setzte er hinzu: »Das macht es nur schlimmer.«
Plötzlich lachte sie. Sie sah ihn an, schmerzverzerrt, doch in ihrem Blick schimmerte der Schalk. Erstaunlich. Lucinda Rackmore war wirklich zäh. Niemals hätte er der verwöhnten Göre von früher zugetraut, dass sie einen so harten Kern besaß.
»Sieh nur, was ich angerichtet habe. Marcy – sie war noch ein Kind.« Lucinda schluckte schwer, und er sah ihre Beine zucken. Er konnte kaum glauben, dass sie ihre Worte ernst meinte. Lucy war selbst erst fünfundzwanzig. Doch ihm war klar, dass sowohl die große Abrechnung als auch die Zeit mit Franco Lucinda zu einer reifen Frau gemacht hatten. Sie klang bitter und resigniert. So sollte niemand klingen, erst recht nicht jemand mit so viel Kraft, so viel Potenzial. Vor allem aber hörte man in ihren Worten ihre übermäßige Erschöpfung. Sie war kurz davor, aufzugeben – das spürte er.
Auch ein harter Kern konnte zerbrechen.
»Das ist nicht deine Schuld«, wiederholte er und hörte selbst den Zweifel in seiner eigenen Stimme. Er wusste gar nicht, was passiert war. Vielleicht war es ihre Schuld. Absichtlich hatte sie Marcy sicher nicht ins Unheil gestürzt. Aber was, wenn allein Lucindas Anwesenheit zum Verhängnis für Marcy geworden war?
Lucy wandte ihr blutverschmiertes Gesicht von ihm ab, und er spürte, dass er sie einmal mehr enttäuscht hatte. Er wollte empört oder wenigstens teilnahmslos sein, das hatte doch auch vor einigen Stunden ganz gut geklappt – doch es gelang ihm nicht. Verdammt. Lucy hatte einfach niemanden.
Nicht einmal ihn.
»Gray!«
Er sah auf. Der Sheriff kam zusammen mit Ember auf ihn zu. Hinter ihnen funkelte die ovale Öffnung des Portals, das sich jetzt wie ein überdimensionales Auge zwinkernd schloss. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Jetzt war er mit dieser Angelegenheit nicht mehr allein. Der Sheriff warf einen flüchtigen Blick auf Lucinda, dann machte er sich daran, Marcys Leiche zu untersuchen.
Unterdessen kniete sich Ember neben Lucy und sah sie mit einem so tiefen und ehrlichen Mitgefühl an, dass sich Gray einmal mehr seiner emotionalen Unzulänglichkeit bewusst wurde.
»Fassen Sie sie besser nicht an«, riet er. »Das verschlimmert ihre Schmerzen.«
»Ich kenne diesen Fluch«, erwiderte Ember leise. »Es ist Dämonen-Juju.«
Gray konnte es nicht fassen. »Wie
Weitere Kostenlose Bücher