Eine Hexe in Nevermore
wie eine kuschelige warme Decke. Sie genoss das Gefühl, denn es war so wunderbar, und sie hatte so lange nichts anderes mehr empfunden als Erschöpfung und Angst.
Das Tolle an einem Traumstrand wie diesem war, dass der Sand sich nicht überall festsetzte, wo er nicht hinsollte. Dieser Sand blieb überhaupt nicht kleben. Sie trug wieder den silbernen Bikini, allerdings in einer etwas anderen Version. Die winzigen Dreiecke des Oberteils bedeckten nur unzureichend ihre Brüste, und das Höschen war ohnehin kaum der Rede wert. Das minikleine Vorderteil bildete das einzige Stück Stoff – an den Seiten wurde der String von zwei Bändchen gehalten, die nicht dicker waren als Zahnseide, und ihr Po war ganz nackt. Ganz sicher war Gray für dieses Outfit verantwortlich. Männer blieben nun mal Männer, auch in Träumen.
Sie erhob sich und sah sich um.
Sie war allein.
Enttäuschung keimte in ihr auf. Sie war sich nicht sicher, wie Gray es angestellt hatte, sie in seinen Traum zu transportieren – trotzdem war sie froh darüber. Dann kam ihr plötzlich der Gedanke, dass sie tot sein könnte.
Die letzten Empfindungen, an die sie sich erinnerte, waren schrecklich gewesen. Eben noch fühlte es sich an, als würde man sie in eiskaltes Wasser tunken, und im nächsten Moment kam sie sich vor, als würde man sie in der Mikrowelle auf der höchsten Stufe grillen. Als Strafe dafür, dass sie sich ihrer Thaumaturgie bediente, hatte Franco sich eine schlimme Tortur ausgedacht.
Nicht im Entferntesten hatte sie es sich so ausmalen können.
Sie erschauerte. Wie lange blieb ihr noch? Wie viel Erholung war ihr vergönnt, bevor sie in ihren geschundenen Körper zurückkehren musste?
Mit ihrer besonderen Begabung hatte sie schon einmal ein Leben gerettet, wenn auch nur für ein paar kostbare Minuten. Trotzdem. Wieso hatte sie geglaubt, Marcy retten zu können, noch dazu unter solchen Voraussetzungen?
Ein Gefühl von Traurigkeit überfiel sie. Plötzlich konnte sie es nicht mehr genießen, an diesem Strand zu sitzen, den warmen Sand unter den Füßen zu spüren und die herrliche tropische Luft zu atmen. Denn Marcy war tot.
Was war der Grund dafür? Warum hatte man sie umgebracht?
Der Inhalt des roten Beutels.
Erst jetzt erinnerte sich Lucinda wieder an den Beutel. Was war damit geschehen? Steckte er immer noch in ihrer Jeanstasche? Sie war sich nicht sicher, ob sie das Versprechen halten konnte, das sie Marcy gegeben hatte. Was interessierte sie Nevermore? Je länger sie sich hier aufhielt, desto wahrscheinlicher war es, dass Bernard ihr auf die Spur kam, und sein Fluch hatte schon genug Schaden angerichtet. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Langsam hatte sie wirklich die Nase voll von Geheimnissen. Ein weiteres Geheimnis würde sie vielleicht nicht mehr ertragen.
»Hey!«, hörte sie da eine männliche Stimme rufen.
Gray lief auf sie zu. Er trug die schwarzen Schwimmshorts und hatte ein freches Grinsen im Gesicht. Selbst in diesem Aufzug strahlte er Stärke, Männlichkeit und Autorität aus. Ihre Knie drohten nachzugeben, und ihr Magen zog sich zusammen.
Vor Begierde nach Gray.
Das war wirklich ein Traum. Marcy, der mysteriöse rote Beutel, selbst ihr eigener Untergang – an alldem konnte sie nichts ändern. Alles, was ihr blieb, war dieser Moment, mit diesem Mann, der sie eigentlich eher ignorieren müsste, statt einen Traum mit ihr zu teilen. Er war ein Drache, erinnerte sie sich, und natürlich hatte er auch das Traumgehen studiert. Streber, dachte sie missbilligend.
Er blieb vor ihr stehen, und sein Anblick brachte ihr Blut in Wallung. Oh Göttin! Ihm entging nicht, welche Wirkung er auf sie hatte. Das machte er alles mit Absicht. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte – oder auf ihn.
Sein Grinsen wurde noch breiter. »Wie geht’s, lüsterne Lucinda?«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und tat so, als wäre sie sauer. »Hatte ich nicht gesagt, du sollst mich nicht so nennen?«
»Ach echt? Und was willst du dagegen tun?«
Sie ging auf ihn zu, die Augen zu Schlitzen verengt. Gray stand breitbeinig da, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah sie herausfordernd an. Als sie schließlich dicht genug vor ihm stand, um ihm mit ihrem Zeigefinger auf die Brust zu tippen, schnappte er sie einfach und warf sie ins Wasser.
Prustend tauchte sie wieder auf. Er war zu ihr ins Wasser gesprungen, und während sie versuchte, Luft zu holen, griff er nach ihrem Fußknöchel und zog sie wieder nach
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