Eine hinreißende Schwindlerin
unsinnig. Wie unbedacht. Und doch …
Er klopfte.
Und wartete.
Madame Esmeralda öffnete die Tür. In der Hand hielt sie eine qualmende Talgkerze, die ihre Gesichtszüge erhellte. Gareth konnte sehen, wie ihre Augen sich vor Schreck weiteten, als sie erkannte, wer da auf ihrer Schwelle stand. Sie sagte kein Wort, bat ihn auch nicht herein, sondern sah ihn nur verblüfft an.
Sie trug jetzt nicht diese lächerliche Verkleidung, sondern einen schlichten Morgenrock aus dicker, dunkler Wolle. Ihr weißes Hemd lugte am Kragen darunter hervor. Dieses winzige Stück Stoff erinnerte ihn plötzlich mit aller Macht an den vergangenen Nachmittag. An die weiche Haut, die nur durch zwei Lagen Stoff und so viel feuchte Luft von seinen Händen getrennt war. Ein Klumpen formte sich in seiner Kehle und Nebel senkte sich über die in seinem Kopf so sorgfältig zurechtgelegte Rede.
Sie schlang einen Arm um sich, als wäre sie es, die sich vor ihm schützen musste.
„Wissen Sie, warum mir klar ist, dass Sie eine Betrügerin sind?“, entfuhr es ihm krächzend.
Sie sah ihn an.
„Weil Sie sich irren. Sie irren sich gründlich.“ Er dachte fieberhaft nach, was er ihr hatte sagen wollen. In der Wissenschaft geht es um Antworten. Sie erhebt uns über diejenigen, die keine Fragen stellen.
Doch ehe er noch den Mund aufmachen konnte, beging Gareth einen fatalen Fehler – er sah Madame Esmeralda in die Augen. Er hatte sie für tiefschwarz wie die einer Zigeunerin gehalten. Aber nun, aus der Nähe und im Schein der Kerze, erkannte er, dass sie tatsächlich dunkelblau waren.
Diese Tatsache reichte aus, alles Blut aus seinem Gehirn weichen zu lassen. Sämtliche Argumente über die Vorzüge wissenschaftlichen Denkens lösten sich in nichts auf. Stattdessen trat er einen Schritt auf sie zu, ließ die Maske vor den Augen fallen und gestattete ihr einen Einblick in das Inferno in seinem Innern.
Sie hielt hörbar den Atem an. „Warum sagen Sie, dass ich mich irre?“ Ihre Stimme bebte leicht.
„Ich bin kein Automat.“ Die Worte kamen von irgendwoher, vielleicht aus seinem Bauch, aber ganz sicher nicht aus seinem nutzlos gewordenen Kopf. Er kam noch einen Schritt näher. Sie hielt seinem Blick weiterhin stand, ebenso wenig imstande wegzusehen wie er. Ihr Atem dampfte weiß in der kalten Nachtluft und ging stoßweise, im selben Rhythmus wie sich ihre Brust hob und senkte. Er konnte jeden ihrer Atemzüge süß an seinen Lippen spüren.
Es war reiner Selbsterhaltungstrieb, die Hand auszustrecken und die Kerzenflamme mit den Fingern zu löschen; die sinnlichen Bilder verschwinden zu lassen, ehe sie sich für alle Zeiten in sein Gedächtnis einbrannten. Der Docht zischte, und ihre Augen waren in der plötzlichen Dunkelheit nicht mehr zu sehen.
Es half nicht. Er konnte immer noch ihren Duft wahrnehmen. Er konnte ihren süßen Atem auf seinen Lippen schmecken. Und die fahle Laterne in der Nähe warf genug Licht, dass er sehen konnte, wie sie sich die Lippen befeuchtete. Ihm wurde glühend heiß.
„Ich bin nicht aus Holz.“ Wieder streckte er die Hand aus und strich leicht über ihre warme Wange. Trotzdem wich die törichte Frau immer noch nicht zurück. Sie zuckte nicht einmal zusammen, als er ihr Kinn anhob. Stattdessen öffneten sich ihre Lippen leicht, eine unbewusst einladende Geste.
Der Gedanke, ihren Mund an seinem zu spüren, brachte ihn endgültig um den Verstand. Er senkte den Kopf, bis seine Lippen ganz dicht vor ihren waren. „Und vor allem werde ich mich von Ihnen nicht leidenschaftslos nennen lassen.“
3. KAPITEL
Jenny erlebte einen flüchtigen Moment vollkommener geistiger Klarheit, bevor sie Lord Blakelys Lippen auf ihren spürte. Madame Esmeralda wäre schon in dem Moment zurückgewichen, als er die Kerze gelöscht hatte. Madame Esmeralda wäre niemals wie gelähmt vor Verlangen einfach reglos stehen geblieben.
Hätte sie fünf Minuten Zeit zum Nachdenken gehabt, hätte sie ihn zurückgestoßen. Schließlich erforderte das ihre Rolle. Doch ihr blieb nur eine Sekunde und so fällte ihr Verstand eine ganz andere Entscheidung. Blakelys heißer Atem an ihren Lippen. Die Glut, die sie durchzuckte, als er mit seiner unbehandschuhten, vom Regen noch nassen Hand ihre Wange streichelte.
Vor allem beharrte etwas zutiefst Weibliches in ihrem Innern darauf, nicht zurückzuweichen; eine Knospe, die sich nach Jahren der Lügen und Verweigerungen danach sehnte, endlich aufzublühen. Madame Esmeralda hätte sich darüber
Weitere Kostenlose Bücher