Eine hinreißende Schwindlerin
Auch wirkte er erschreckend gelassen für einen angeblich von heftigem Begehren heimgesuchten Menschen. Jenny war diejenige, die sich verzehrte. Er hatte recht, sie wollte, dass er sie wieder berührte, sie sehnte sich geradezu schmerzhaft danach.
Er streckte den Arm aus. „Und nun kommen Sie, geben Sie mir Ihre Hand. Ich verspreche Ihnen, ich beiße nicht.“
Sie schluckte. „Wirklich nicht? Warum wollen Sie dann meine Hand?“
Seine Augen funkelten flüchtig anerkennend auf. „Ich will Ihnen aus der Hand lesen.“
Jenny war verwirrt. „Aber Sie glauben doch gar nicht an Wahrsagerei.“
Er stieß sich von der Tür ab und ging an Jenny vorbei ins vordere Zimmer. Vor ihrem Tisch blieb er stehen und lüpfte mit Daumen und Zeigefinger das billige schwarze Tuch. „ Daran glaube ich nicht.“ Er ließ das Tuch zu Boden fallen. Dann wandte er sich dem Messingbecken zu. Sie hatte die Asche daraus entfernt und für den nächsten Kunden frische Sandelholzspäne hineingeschüttet. Er nahm eine Handvoll Späne heraus. „Und daran ebenfalls nicht.“ Er ballte die Faust und feine Krümel Sandelholz rieselten auf das schwarze Tuch am Boden. Lord Blakely drehte sich zu ihr um. Seine Züge waren nach wie vor hart und ungerührt, als er sich im Zimmer umsah, aber ihrem Blick wich er aus. „Ich will Ihnen sagen, woran ich glaube. Ich glaube an Intelligenz. Ich glaube an raffiniert ausgeführte Tricks. Und ich glaube, an beidem mangelt es Ihnen nicht.“ Zwei Schritte und er stand wieder unmittelbar vor ihr. „Geben Sie mir Ihre Hand, und ich zeige Ihnen, wie dieser Trick funktioniert.“
Jenny schüttelte den Kopf.
Er bot ihr gar nicht die Gelegenheit zurückzuweichen. Stattdessen packte er ihr Handgelenk und zog sie zu sich. Die Wärme, die von ihm ausging, ließ sie erschauern, doch er nutzte die Nähe nicht aus. Er drehte nur ihre Handfläche nach oben und studierte sie mit sachlicher Distanziertheit. „Zwischen Ihrer Handlesekunst und meiner besteht im Grunde gar kein Unterschied, nur dass ich mich nicht auf kosmische Einflüsse berufe. Ich werde Ihnen erklären, woher ich meine Orangen und Elefanten beziehe, wissenschaftlich ausgedrückt.“ Mit den Fingerkuppen zog er eine Linie über ihre Handfläche. „Das Erste, was ich in Ihrer Hand lese, ist, dass Sie eine gute Schulbildung genossen haben; wahrscheinlich an einer dieser kleinen Schulen, in die die höheren Töchter auf dem Land geschickt werden.“
Jenny hielt die Luft an. „Ich … wie kommen Sie darauf …“
Er zählte die einzelnen Punkte an ihren Fingerspitzen ab. „Sie sind vertraut mit Insekten, die man auf Kärtchen aufspießt. Der Umgang mit einem Marquess scheint für Sie etwas Selbstverständliches zu sein. Wenn Sie wütend werden, benutzen Sie Ausdrücke wie exsikkiert und ossifizieren . Sie halten sich so kerzengerade, als hätten Sie das mit einem Buch auf dem Kopf geübt. Außerdem sprechen Sie wie eine vornehme junge Dame, der man beigebracht hat, keine Buchstaben zu verschlucken.“ Er hielt inne und tippte mit dem Daumen auf ihren kleinen Finger. „Mir gehen jetzt die Finger aus, aber keineswegs meine verschiedenen Beobachtungen.“
Jenny versuchte, ihm die Hand zu entziehen, aber er ließ sie nicht los. Stattdessen strich er wieder mit den Fingern über ihre Handfläche. Da sie jahrelang ihre Wäsche selbst gewaschen hatte, waren ihre Hände etwas rau. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass sein beängstigend gut funktionierendes Gehirn bereits die genaue Anzahl der Wäscheberge ausrechnete, die sie bewältigt hatte.
„Ich glaube nicht, dass Ihre Familie viel Geld hatte – hat vielleicht ein Wohltätigkeitsverein Ihre Schulbildung bezahlt?“
Jenny schluckte und krümmte die Finger.
Er strich sie wieder glatt. „Oder es war eine Erbschaft. Ein Mäzen. Sie sollten Gouvernante werden. Ich nehme an, das war das Ziel Ihrer Ausbildung?“
Am Nachmittag, nur im Hemd, hatte Jenny sich weniger nackt gefühlt.
„Entweder wollten Sie das nicht, oder Ihr Ruf wurde so beschädigt, dass Sie nicht mehr als Gouvernante arbeiten konnten.“
Nein, o nein, er darf die Wahrheit nicht herausfinden. Dadurch würde er viel zu viel Macht über sie gewinnen. Wenn er erkannte, dass ihr Ruf in der Tat beschädigt war – dass sie einmal versucht hatte, eine Mätresse zu werden –, kam er wohl zweifellos zu dem Schluss, sie könnte erneut offen für diese Möglichkeit sein.
Er sah von ihrer Hand auf und starrte an die Wand hinter ihrem Kopf.
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