Eine hinreißende Schwindlerin
aus der Kutsche stieg. Bedienstete strömten herbei, um ihn ins trockene Haus zu führen.
Er stieß ihre hilfreichen Hände beiseite. „Lasst mich. Ich mache noch einen Spaziergang“, teilte er seinen Dienstboten unfreundlich mit. Sie tauschten verstohlene Blicke – das taten sie oft –, ließen ihn aber ziehen.
Spazierengehen war eine Marotte, die er sich in Brasilien angewöhnt hatte. Nur so hatte er schließlich seine täglichen Beobachtungsrunden drehen können. Diese Angewohnheit hatte er mit nach Hause gebracht, aber in London war sie bestenfalls unbequem. Die Straßen waren voller Dreck, und es gab keine Regenwaldbäume, unter deren ausladendem Blätterdach man hätte Schutz vor dem Regen finden können. Doch in Augenblicken wie diesem, wenn sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen und er innerlich zu kochen schien, brauchte Gareth diese einsame körperliche Verausgabung mehr denn je.
Er machte sich auf den Weg in die Dunkelheit. Der kalte Regen lief ihm in Strömen über den Rücken, doch es gelang ihm nicht, den rasenden Zorn in Gareths Innerem abzukühlen. Leidenschaftslos wie Sägemehl?
Madame Esmeralda irrte. Es war nicht die Wissenschaft, die seine Gefühle zum Erkalten gebracht hatte. Es war dieser Ort. Es waren diese Menschen. Dieser Titel . Er hatte viele Jahre im Regenwald verbracht, einer Welt voller Farben und blühendem Leben. Hier reihte sich in geometrischer Anordnung ein Backsteinhaus ans andere, getrennt nur von Sturzbächen aus Matsch und Schlamm. Heruntergelassene Rollläden vor bleichen Fenstern; verwelktes Laub auf halb totem Gras. London war steril. Der Regen hatte alle Gerüche bis auf die beharrlichsten weggewaschen – den Gestank nach Kohle und kaltem, nassem Stein.
Wenn die Stadt schon trostlos war – ihre Bewohner waren noch schlimmer. Vor elf Jahren hatte er London verlassen, weil ihn die höflich steife Gesellschaft beinahe erstickt hatte. Seit seiner Rückkehr waren es lediglich die unnachgiebige Strenge wissenschaftlichen Denkens, die Klarheit des Beobachtens und das Gefühl der Beherrschung des Universums gewesen, die ihn am Leben gehalten hatten. Schon vor langer Zeit hatte er erkannt, dass er hier in London niemals richtig hingehören würde. Nur das Studieren der naturkundlichen Aufzeichnungen, die er in Brasilien gemacht hatte, hatte in den letzten Monaten die Erinnerung daran wachhalten können, wer Gareth im Grunde war. Ohne sie wäre sein eigentliches Ich in den endlosen Verpflichtungen von Lord Blakely untergegangen.
Gareth schüttelte den Regen von seinen Schultern und hob seufzend den Kopf. Er war nun schon fast eine halbe Stunde durch die dreckigen Pfützen gelaufen und nass bis auf die Knochen. Ohne die zornigen Gedanken in seinem Kopf und das zügige Lauftempo wäre ihm sicherlich längst eiskalt gewesen.
Unbewusst hatten ihn seine Schritte in die Gegend geführt, in der Madame Esmeralda wohnte. Die Straßen waren entschieden schäbiger als die in Gareths eigenem Viertel; braune, plätschernde Rinnsale umspülten vom Regen aufgeweichte Pferdeäpfel auf dem Kopfsteinpflaster. Trotzdem war es keine gefährliche Gegend. Familien lebten hier zwar nicht im Wohlstand, aber auch nicht in völliger Armut.
Er entdeckte die Fenster ihrer Wohnung, unten in einem Kellergeschoss, ein paar Stufen hinunter. Sie verbreiteten ein warmes Licht, das ihn sofort an einen heißen Tee und einen Ofen denken ließ. Ein glühender und völlig unvernünftiger Zorn befiel ihn, als er sich vorstellte, wie sie in einem gut beheizten, gemütlichen Zimmer saß, während er wie ein streunender Kater im Regen umherstreifte.
Seine ganze Reaktion auf sie war so irrational wie die Vorstellung von einer Wahrsagerin, die die Geister über die Zukunft befragte. Genauso töricht wie die Idee, einer Frau mit Elefanten aus Ebenholz den Hof zu machen. Und, zugegeben, genauso unverständlich wie eine Betrügerin, die mehrere hundert Pfund als Gegenleistung für bloßes Nichtstun zurückwies. Vielleicht war das der Grund, warum er jetzt auf ihre Haustür zuging und die kalten, nassen Stufen hinunterstampfte.
Plötzlich sah er vor sich, wie er sie zur Rede stellen und ihr die kühle Strenge wissenschaftlichen Denkens erklären würde. Er wollte ihr mit seinen Worten allen Wind aus den Segeln nehmen, so wie es ihr bei ihm gelungen war. Sie sollte sich so aus dem Gleichgewicht gebracht fühlen wie er jetzt. Er wollte gewinnen , ihr beweisen, dass sie sich irrte und er recht hatte. Wie
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