Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Manteltaschen in gleichmäßigem Tempo. Harrison hätte sie leicht einholen können, zögerte jedoch, denn dann hätte er sie ansprechen, vielleicht sogar mit ihr weitergehen müssen. Und er fand die Aussicht auf ein Gespräch und einen Spaziergang zu zweit zwar aufregend, hatte aber das Gefühl, daß das Mädchen sich gestört fühlen könnte.
Er war jetzt so nahe, daß er ihr Kinn und den Schatten dunkler Wimpern erkennen konnte. Der kohlenstoffreiche Rauch hing dicht und würzig in der kalten Luft. Es war das Mädchen, an das er gedacht hatte. Nora. Nora wer? Er hätte gern gewußt, was sie so sehr beschäftigte, daß sie kein einziges Mal hochblickte.
Unmöglich, sagte er sich, daß sie seine Anwesenheit nicht bemerkt hatte. Mindestens mußte sie seine Schritte gehört haben. Er konnte nicht einfach hinter ihr bleiben und sie nicht ansprechen, das hätte womöglich den Eindruck erweckt, er verfolge sie. Das Mädchen würde schneller gehen oder sich herumdrehen und ihn stellen. Harrison hatte kaum eine Wahl. Widerstrebend zog er mit ihr gleich und sah zur anderen Seite hinüber. Er sagte, Hallo , zögerte eine Sekunde und ging dann weiter.
Mit ihrem Blick im Rücken – einem Blick, der dort ein Loch hineinzubrennen schien – ging Harrison mit vorgetäuschter Entschlossenheit weiter, als hätte er ein Ziel.
Er hatte ihr Gesicht nur flüchtig gesehen (die dunklen Augen nicht erschrocken, eher ein wenig mißtrauisch; sie hatte seinen Gruß nicht erwidert) und erreichte allzuschnell das Schultor. Er wäre am liebsten nicht hineingegangen und schaffte es, als er am Tor stehen blieb, das eigentlich kein Tor war, sondern mehr ein schmiedeeiserner Torbogen, nur mit großer Anstrengung, sich nicht umzudrehen und ihr entgegenzuschauen. Er hätte es tun sollen, dachte er jetzt. Was wäre daran so schlimm gewesen? Er hätte ja so tun können, als müßte er seinen Schuh schnüren. So einfallslos und durchsichtig der Vorwand gewesen wäre, er hätte ihm doch Gelegenheit gegeben, mit ihr zu sprechen. Er hätte sie gefragt, in welchem Haus sie wohnte. Ob sie manchmal auch am Strand spazierenging. Und (pfeif auf Stephen) sie wären zusammen in den Speisesaal gekommen und hätten, einander gegenüber sitzend, zu Mittag gegessen und sicher Gemeinsamkeiten entdeckt – Lehrer, die sie beide hatten, Fächer, die sie mochten oder nicht.
Auf solchen Augenblicksentscheidungen, dachte Harrison jetzt, wurden Welten erbaut. Hätte er Nora an jenem Tag angesprochen, wäre sie vielleicht seine Freundin geworden und nicht die von Stephen. Es wäre nie zu der Szene im Cottage gekommen.
Er stand auf und suchte den Fußweg zum Gasthof, den er gekommen war. Zufallsentscheidungen konnten nicht rückgängig gemacht werden, das wußte er. Augenblicksentscheidungen konnten nicht für ungültig erklärt werden.
Den Hügel hinauf hatte er beinahe vierzig Minuten gebraucht, hinunter brauchte er nur fünfzehn und kam mit müden Beinen und hungrig im Gasthof an. Vielleicht hatte er das Mittagessen verpaßt. Im Vestibül bemerkte er ein Hinweisschild für eine weitere Hochzeit (war es vorhin schon da gewesen?): KAROLA-JUNGBACKER PROBE FESTESSEN, PIERCE-SAAL, 19 Uhr. Als er sich in den Speisesaal setzte, kam eine Kellnerin mit der Karte. Die Auswahl war nicht groß, aber abwechslungsreich: Raclette mit Gürkchen und Bratkartoffeln; Auberginen-Crêpes; Hühnerleber von Tieren aus Freilandhaltung. Als Vorspeise bestellte er einen Salat aus Spinat und Feigen und danach das Raclette. Dazu trank er ein Glas Cabernet Sauvignon. Durch die Fenster hatte er einen schönen Blick auf die Berge im Westen. Drei weitere Tische waren besetzt, an einem saß ein Paar, das nur beiläufig auf die Begeisterungsausbrüche eines Jungen reagierte, der, etwa in Toms Alter, mit Filzstiften malte und von seinen Eltern immer wieder Zusicherungen verlangte, daß sie mit einer bestimmten Seilbahn fahren, in den Outlet-Store von North Face gehen und rechtzeitig, um vor dem Abendessen noch zu schwimmen, in den Gasthof zurückkommen würden.
Harrisons gute Laune erhielt nur einen kleinen Dämpfer, als der Salat kam und er unter einem Spinatblatt am Rand eine tote Fliege entdeckte. Da er die Kellnerin (und indirekt Nora) nicht in Verlegenheit bringen wollte, beschloß er, kein Aufhebens davon zu machen. Erst als die junge Frau kam, um den Teller abzudecken, auf dem noch viel ungegessener Salat lag, bemerkte sie die Fliege.
»O Gott«, sagte sie, »Sie hätten etwas sagen
Weitere Kostenlose Bücher