Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
sollen.«
»Kein Problem«, versetzte er.
»Kann ich Ihnen vielleicht einen frischen Salat bringen?«
Die Kellnerin hatte blondes Haar, das stramm zurückgenommen und am Hinterkopf gebunden war. Ein vorstehender Eckzahn war mit Lippenstift verschmiert. Sie schien so verwirrt, daß Harrison wünschte, er hätte die Fliege einfach versteckt.
»Es ist wirklich nicht schlimm«, versicherte er, »aber ich hätte gern noch ein Glas Cabernet.«
Sichtlich erleichtert nahm die junge Frau den anstößigen Teller, der kaum Anstoß erregt hatte, vom Tisch. Harrison sah das Erscheinen einer Fliege mitten im Dezember eher als ein weiteres Zeugnis für die launische Unberechenbarkeit der Jahreszeit. Fast unverzüglich brachte die Kellnerin ihm ein neues Glas Wein, das er in aller Ruhe zu seinem Raclette genoß. Wieder dachte er an den Tag, an dem er Nora zum ersten Mal begegnet war.
Ohne einen Blick zurück war Harrison durch das Tor gegangen und in sein Zimmer zurückgekehrt, wo er bis ein Uhr gewartet hatte, um Stephen zu wecken. Quälende Unschlüssigkeit plagte ihn. Er wünschte, er könnte zu dem Augenblick zurückkehren, an dem er Nora überholt hatte, um diesmal nicht an dem Mädchen im blauen Stoffmantel vorüberzugehen, sondern ein Gespräch anzufangen oder, noch etwas plumper, am Tor auf sie zu warten. Trotzdem unternahm er nicht, wie das ein anderer vielleicht getan hätte, sofort den Versuch, das Verpaßte nachzuholen. Er sah Nora am Nachmittag im Speisesaal, aber er sprach sie nicht an, der selbstverständliche Anspruch von Stephens Präsenz lenkte ihn ab (und als er aufschaute, war sie weg). Im weiteren Verlauf des Tages fand um drei das wöchentliche Pokerspiel statt, danach gab es ein einfaches Abendessen mit anschließender Studierstunde, während der Harrison Der alte Mann und das Meer las, da er seine Hausaufgaben schon am Morgen gemacht hatte.
An diesen Tag konnte Harrison sich gut erinnern, aber an den nächsten oder übernächsten nicht, und mittlerweile waren ihm ganze Monate entfallen. Er hatte gewisse Schlüsselerlebnisse im Gedächtnis, die meisten hatten mit sportlichen Ereignissen und später mit Nora zu tun, und wenn er sich bemühte und ein paar Hinweise bekam, konnte er sich auch einige Episoden wieder vor Augen rufen – aber große Teile der letzten beiden Schuljahre blieben im Dunkeln. Er erinnerte sich an ein anderes Mädchen, Maria, und an die Weihnachtsferien seines vorletzten Schuljahrs. Er hatte in der Eigentumswohnung ihrer Eltern in Sunday River ein Zimmer gemietet. Kurz nach ein Uhr morgens war er zu seiner Überraschung von der athletisch gebauten Maria geweckt worden, als sie zu ihm ins Bett schlüpfte. Anfangs war er starr und angespannt vor lauter Angst, die Eltern könnten erwachen und durch den Korridor kommen, aber die Anspannung wich bald der Erregung über das Mädchen und ihre bemerkenswert sachkundige Art, die aber gar nicht erforderlich war, da Harrison ein bereitwilliger, wenn auch tolpatschiger Partner war, der es eilig hatte, seine Unschuld loszuwerden. Nachdem Harrison und Maria das gemeinsam erledigt hatten, waren sie eine Zeitlang so etwas wie ein Paar, obwohl Harrison ahnte, daß Maria mit ihrem langen blonden Haar und ihrem überentwickelten Busen jeden Moment in das Bett eines anderen schlüpfen könnte. Das Mädchen im blauen Stoffmantel – der, als der Frühling herankam, einer Jeansjacke wich – trat weiter in die Vergangenheit zurück, eine Vergangenheit, die sich allmählich mit verpaßten Gelegenheiten, versäumten Chancen und mildem Bedauern füllte.
Harrison erinnerte sich an ein Spiel der Kidd Academy, das Anfang April, zu Beginn der Baseballsaison, gegen die North Fenton High School stattgefunden hatte, eine starke Mannschaft, wenn auch fast sicher war, daß Kidd gewinnen würde. Harrisons Gedächtnis schaltete sich im vierten Inning ein. Was vorher abgelaufen war, sah er nur verschwommen vor sich, wußte allerdings noch, daß Kidd fünf hinten gelegen hatte. Jerry Leyden auf dem Wurfhügel war ein Bild reiner Frustration. Kurz vorher, auf der Spielerbank, hatte der Werfer geschnauzt: »Mensch, Jungs, reißt euch zusammen«, nachdem die Mannschaft im letzten Offensivabschnitt den Rückstand wieder nicht verkürzt hatte. Ausnahmsweise hatte Harrison an diesem Tag nicht der Verteidigung die Schuld gegeben. Seiner Meinung nach lag es einzig am schlechten Werfen. Jerry war unfähig, seinen Ball zu plazieren, er schaffte es nicht, seinen Sinker dazu zu
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