Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Luft von Frühling, und es war angenehm absurd, sich daran erinnern zu müssen, daß Weihnachten keine drei Wochen mehr entfernt war. Er folgte einem ausgetretenen Fußweg, der durch Birkenhaine und um Felsvorsprünge herum führte und manchmal so steil war, daß er mit den Händen Halt suchen mußte. Die Sonne durchflutete den Wald, und eine Zeitlang war Harrison verzaubert von dem milden winterlichen Licht.
Der Hügel wurde etwas sanfter, als er höher hinaufkam. Er erreichte eine kniehohe Steinmauer, die trotz ihres offenkundigen Alters bemerkenswert gut erhalten war. Eine Weile folgte er der Mauer und fragte sich überrascht, warum sie ohne einen Hinweis darauf, was sie früher einmal umschlossen hatte, einfach aufhörte. Er setzte sich und genoß den großartigen Ausblick auf den Gasthof und auf die fernen Berkshires.
Er überlegte, wo Nora gerade war, was sie gerade tat, und dachte wieder an das Bild, das ihm vorhin eingefallen war, klar und lebhaft, das Bild jenes Moments, als er sie zum ersten Mal aus der Nähe gesehen hatte.
Es war ein Sonntag gewesen. Er war im Dorf spazierengegangen, wie er das manchmal tat, wenn er mehrere Stunden hintereinander für die Schule gearbeitet hatte und eine Pause brauchte. Es mußte Ende Oktober in seinem vorletzten Schuljahr gewesen sein, denn der Geruch von brennendem Laub hatte in der Luft gelegen. Anders als sein Zimmergenosse Stephen erwachte Harrison sonntags immer zeitig und bemühte sich dann, einen möglichst großen Teil seiner Hausaufgaben zu erledigen. Harrison war kein Langschläfer, Stephen hingegen besaß ein ausgesprochenes Talent fürs Schlafen – wie übrigens für vieles andere. Harrison erinnerte sich, wie Stephen einmal, kopfunter von seinem Stockbett hängend, ein Referat über Randall Jarrells The Death of the Ball Turret Gunner gehalten hatte, obwohl er das Gedicht höchstens überflogen hatte. Er erinnerte sich weiter, wie Stephen sich um das Amt des Klassensprechers beworben und mit den brillant gesetzten Witzen in seiner Rede die ganze Klasse zum Lachen gebracht hatte – Schüler, die intellektuelle Unterkühltheit und Ironie höher werteten als alle anderen Eigenschaften. Er sah Stephen noch vor sich, wie er mit respektvollem, ja, eifrigem Nicken ein paar Sätzen seines Vater darüber gefolgt war, daß jeder die eigene besondere Begabung entdecken und etwas daraus machen müsse – Dad mit einem Krug Old Fashioneds neben sich und einem Glas in der Hand –, wobei Harrison das Gefühl hatte, daß der Sohn selten direkte Aufmerksamkeit vom Vater erfuhr und darum um so mehr danach verlangte.
Er hatte diesen Spaziergang also am Sonntag vor dem Mittagessen gemacht, entschied Harrison. Ja, ganz sicher, gerade rollte ein kurzer aber stetiger Strom von Autos von der Kirche der Kongregationalisten weg. Viertel nach elf? Kam Nora aus der Kirche? Merkwürdig, daß er daran noch nie gedacht hatte.
Harrison wanderte damals viel – sonntags, gelegentlich am Abend nach dem Training, manchmal am frühen Morgen vor der ersten Unterrichtsstunde –, nicht um sich Bewegung zu verschaffen, davon bekam er im Sportunterricht an der Kidd Academy genug. Nein, er tat es mehr, um den Kopf frei zu bekommen und in der Natur zu sein. Er hatte sich immer, auch schon in sehr jungen Jahren, als Naturliebhaber verstanden und sich oft gefragt, ob diese Vorliebe nicht daher rührte, daß er irgendeinen schweren Verlust zu verwinden suchte – eine Sehnsucht nach seinem Vater vielleicht? –, aber viel weiter hatte er diese Hypothese nicht verfolgt.
Das Mädchen, so erinnerte sich Harrison jetzt, ging auf der anderen Straßenseite ein Stück vor ihm. Harrison konnte das blasse Blau ihres Stoffmantels erkennen, den Wollschal, der mehrmals um ihren Hals geschlungen war und ihr Haar zu einer losen kastanienbraunen Rolle hochschob, die sich beim Gehen hin und her bewegte. Sie schien die Häuser und die Laubhaufen rundherum nicht zu bemerken. Sie schaute nicht in Fenster oder Gärten hinein. Sie schien statt dessen auf einen Punkt zu starren, der sich immer anderthalb Meter vor ihr auf der Straße befand.
Harrison ging schneller. Er wollte das Mädchen überholen, und sei es nur, um ihr Gesicht zu sehen. Er glaubte zu wissen, wer sie war. Sie war dieses Jahr neu in seine Klasse gekommen. Sie stammte von irgendwo im Mittleren Westen. Er hatte sie auf dem Schulgelände und im Speisesaal gesehen. Sie hieß – Sarah? Nein, nicht ganz. Nora .
Sie ging mit den Händen in den
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