Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
ihr theatralisches intellektuelles Gehabe, während er die Diskussion behutsam zum Abschluß brachte. Während sie posierten, lernten sie. Erst später, als Agnes selbst unterrichtete, verstand sie die stille Kunst seiner Methoden.
Im November ihres letzten Jahres, genau gesagt am dreizehnten November – ein Tag, den Agnes jedes Jahr wie ein privates Jubiläum beging –, war sie nach dem Unterricht zu Mr. Mitchell ins Büro gegangen, um sich wegen einer Note für einen Aufsatz zu beschweren. Sie hatte es (im Gegensatz zu einigen anderen Schülern) in ihrer ganzen Schulzeit nie darauf angelegt, den Lehrern das Leben schwer zu machen, deshalb fühlte sie sich völlig berechtigt zu ihrem Protest. Bereit zum Kampf ging sie ins Zimmer, legte los und ließ Mr. Mitchell gar nicht erst zu Wort kommen. Am Ende war sie außer Atem und hochrot im Gesicht. Jim, der die ganze Zeit ihr gegenüber an seinem Schreibtisch gesessen hatte, während sie im Stehen ihre Kampfrede hielt, schob seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust.
»Miss O’Connor«, sagte er, »das war das zwingendste Plädoyer für die Änderung einer Note, das ich je gehört habe. Weit zwingender, wenn ich das hinzufügen darf, als alles, was Sie bisher für diesen Kurs geschrieben haben. Ich bin beeindruckt. So beeindruckt, daß ich die Note ändern werde. Unter einer Bedingung.«
»Ja?« fragte Agnes, erschöpft und etwas verwirrt über den schnellen Erfolg.
»Sie versprechen mir, daß Sie sich beim Schreiben in einen ähnlichen Zustand hineinsteigern.«
Agnes fragte sich, ob das ein Trick war. »Okay«, sagte sie.
»Gut«, sagte Mr. Mitchell. »Sie schreiben den Aufsatz neu, und Sie bekommen ein A.« Er stand auf und zog ein bißchen an seinem Gürtel. Er stemmte die Hände in die Hüften. Agnes blickte auf seine Hüften, sah, wie sein Hemd sich über dem Gürtel leicht bauschte, bemerkte die zehn oder zwölf Zentimeter bloßer Haut der Unterarme, die unter den hochgekrempelten Ärmeln hervorsahen, und verspürte Begehren. Rein. Fremd. Unverdorben. Sie hob ihren Blick zu seinem Gesicht, zu seinen blauen Augen, die ihr vorher nie aufgefallen waren. Zwanzigoder dreißigmal war Agnes im Kurs dieses Mannes gewesen und hatte sich sein Gesicht nie richtig angesehen. Unvorstellbar.
Mr. Mitchell, den Agnes’ Verhalten offensichtlich verwunderte, neigte den Kopf zur Seite. »Also?«
Agnes konnte sich nicht von der Stelle rühren.
»Also dann«, sagte er, nun peinlich berührt von Agnes’ merkwürdigem Verhalten, »wenn ich Ihnen bis nächsten Mittwoch Zeit lasse, reicht Ihnen das?«
Agnes nickte, machte aber keine Miene, den Aufsatz an sich zu nehmen, den sie mitten in ihrem Vortrag auf den Schreibtisch geworfen hatte.
»Ist noch etwas?« fragte er.
Agnes versuchte, sein Alter zu schätzen. Er war nicht alt. Dreißig vielleicht. Sie würde es schon herausbekommen. Sie konnte ihn ja eines Tages fragen, wo er studiert hatte und in welchem Jahr er seinen Abschluß gemacht hatte.
»Nein«, sagte sie. »Ich bin nur …«
Mr. Mitchell wartete, daß seine Schülerin den Satz beendete.
»Nur was?« fragte er freundlich.
(Später erzählte er Agnes, daß er geglaubt hatte, mit seiner Großzügigkeit bei ihr den Wunsch geweckt zu haben, ihm ihr gequältes Teenagerherz auszuschütten – daß sie vielleicht von einer zerrütteten Familie erzählen würde, von einem Streit mit einer Zimmergenossin oder einer unglücklichen Liebe, lauter Probleme, denen er sich nicht gewachsen fühlte, von denen er nichts hören wollte.)
»Ich muß los«, sagte er, als Agnes ihm nicht antwortete.
Agnes nahm ihren Aufsatz vom Schreibtisch. »Danke«, sagte sie. »Mittwoch geht in Ordnung.«
»Gut«, sagte er, als beglückwünschte er sich schon dazu, eine heikle Situation mit einer Schülerin erfolgreich gemeistert zu haben.
Aber Agnes wußte es anders.
Noch während sie sich, im Wald an einen Baum gelehnt, an diesen Tag erinnerte, war ihr klar, daß sie die Sehnsucht kappen mußte. Wenn sie das nicht tat, würde sie weinen müssen, und sie sah nicht hübsch aus, wenn sie weinte. Die kleinen Äderchen in ihren Augen füllten sich dann mit Blut, und ihre Lider nahmen die Farbe rohen Schinkens an. Nicht mit noch soviel Schminke ließe sich der häßliche Anblick mildern. Sie zog ihren Pullover wieder an und holte mehrmals tief Atem. Sie dachte an die Arbeiten, die, noch unbenotet, auf sie warteten, an den Stand ihres Bankkontos, an das
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