Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Eine Ehefrau hätte vielleicht mit der Zeit angefangen zu nörgeln, ihn mit Verachtung zu strafen – eine Geliebte nicht.
Agnes schlug einen Bogen um eine Steinmauer und folgte weiter dem Fußweg, der noch steiler wurde. Sie atmete jetzt schwer, schwitzte unter dem dicken Pullover (ihrer eigenen Handarbeit) und ärgerte sich, daß sie nicht mehrere Schichten angezogen hatte, die sie nacheinander hätte ablegen können. Aber daß sie die falsche Kleidung eingepackt hatte, konnte man ihr weiß Gott nicht zum Vorwurf machen. Wer hätte in Neuengland im Dezember Temperaturen um zwanzig Grad voraussehen können. Sie lehnte sich an einen Baumstamm, um wieder zu Atem zu kommen. Schweiß rann ihr den Hals und unter den Armen hinunter, und ihr fiel plötzlich ein, daß sie heute morgen vielleicht vergessen hatte, ihr Deo zu benutzen. Dann würde sie sich den Pulli ruinieren. Der Geruch ging nie wieder heraus, jedenfalls nicht ganz. Sie schaute sich nach anderen Menschen um, doch die vollkommene Stille sagte ihr, daß sie allein war. Sie zog sich den Pullover über den Kopf.
Sofort trocknete der Schweiß auf der Haut. In Jeans und Büstenhalter setzte sie sich auf einen Stein, leicht amüsiert bei der Vorstellung von sich selbst halbnackt im Wald, leicht entsetzt über ein schmales Fettröllchen über dem Bund ihrer Jeans. Sie würde in Zukunft hundert statt fünfzig Sit-ups pro Tag machen müssen. Es war ihr eine grauenvolle Vorstellung, daß Jim anrufen könnte, um ein Treffen zu vereinbaren, und sie hätte zugenommen. Mußte eine Frau, die ihren Mann jede Nacht im Bett hatte, sich auch ständig wegen jedes Kilos sorgen?
Heute abend würde jemand Agnes fragen, warum sie nie geheiratet, warum sie keine Kinder gewollt hatte. Jemand würde annehmen, ohne es laut zu sagen, daß sie lesbisch sei. So etwas mußte den Leuten ja in den Sinn kommen. Nie verheiratet. Kein Freund weit und breit. Hockeytrainerin. Agnes hatte mit diesen Fragen Erfahrung, genau wie mit Annäherungsversuchen von Frauen (einer zum Beispiel auf der Reise nach Nova Scotia). In letzter Zeit begannen die Fragen, die sie früher abzuwehren oder abzutun versucht hatte, sie zu ärgern, weil sie immer das gleiche voraussetzten. Nein, Agnes sehnte sich nicht nach einem Kind. Manchmal fragte sie sich, ob das nicht an einem Mangel an Phantasie lag. Sie konnte sich so wenig mit einem Kind sehen wie etwa mit einem Pferd.
Ein leichter Wind kam auf und strich über ihre Haut und ihren Baumwollbüstenhalter. Sie legte eine Hand auf ihre Brust und wurde daran erinnert, wie glatt und straff ihre Haut dort war, wie lange sie nicht mehr berührt worden war. Seit mehr als einem Jahr nicht mehr. Wie viele Jahre noch, bis die Haut ihres Dekolletés nicht mehr glatt sein würde, sondern faltig, wie ihr das bei älteren Frauen aufgefallen war, die einen zu tiefen Ausschnitt trugen. Alles wäre dann verloren, diese Haut, diese Schönheit – ein bedrückender Gedanke, der gleich zum nächsten führte. Schmerzte eine Frau, die wirklich geliebt worden war, der Verlust ihrer Jugend weniger als eine, die solche Liebe nicht erfahren hatte?
In ihrem letzten Kidd-Jahr waren sie alle bei Jim im Kurs gewesen. Harrison, Nora, Rob, Jerry, Bill und Stephen. Bridget nicht, die war ein Jahr zurück, die einzige in ihrem Freundeskreis, die jünger war. Der Kurs »Zeitgenössische amerikanische Literatur« hatte immer eine Warteliste, und wer es schaffte, hineinzukommen, betrachtete sich als Glückspilz. Sie saßen auf Sofas in der Bloomfield Lounge und diskutierten über Bellow, Kerouac und Ginsberg. Stephen, der selten einen Blick in die Lektüre warf, zeichnete sich durch besonderes Diskussionstalent aus. Nora, eine echte Wissenschaftlerin, schrieb Aufsätze, die sie auf Wunsch der Gruppe vorlesen mußte. Harrison hatte Agnes als den Nachdenklichen in Erinnerung;Ideen und Redegewandtheit in der Debatte waren Stephens Stärke. Rob pflegte einen kaum vernehmbaren laufenden Kommentar zum Kommentar zu geben, mit dem er jeden amüsierte, der das Glück hatte, neben ihm zu sitzen, manchmal sogar Mr. Mitchell. Jerry war immer gut vorbereitet und schroff, schlug manchmal, wenn alles andere versagte, unter die Gürtellinie; aber wenn man gerade meinte, er sei zu weit gegangen, gab er sich mit Anstand geschlagen und stellte die eine geniale Frage, die bisher keiner von ihnen in Worte zu fassen vermocht hatte. Und Mr. Mitchell (damals noch nicht Jim) versuchte, sie zu beantworten, und verzieh ihnen
Weitere Kostenlose Bücher