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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Morgenspaziergang, und da fiel mir auf der anderen Straßenseite ein Mädchen auf, es war eines der schönsten Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ich holte sie ein – ich war immer noch auf meiner Straßenseite – und hatte eigentlich vor, zu ihr hinüberzurufen, ein Gespräch anzufangen und sie nach ihrem Namen zu fragen, aber dann ist mir das Wort im Hals steckengeblieben. Ich glaube, ich sagte Hallo, bin dann aber einfach weitergegangen. Und soll ich dir etwas sagen? Ich habe es mein Leben lang bereut, daß ich an diesem Tag nicht über die Straße gegangen bin und ein Gespräch angefangen habe.«
    Nora verschränkte die Arme, das leere Wasserglas hing am Stiel zwischen ihren Fingern. »Ich war enttäuscht, als du nicht am Tor warst«, sagte sie schließlich.
    Harrison spürte die Hitze, die vom Hals ausgehend hinter seinen Ohren hochkroch.
    »Die Wahrheit sagen ist erotisch«, sagte Nora. »Wie wenn man zum Kuß den Mund weit aufmacht.«
    Wieder dieses vibrierende Gefühl in seiner Brust: »Das tun Liebende, wenn sie sich begegnen«, sagte Harrison.
    »Ich möchte nie einen Geliebten haben«, sagte Nora.
    »Ein Mann kann nicht behaupten, daß er keine Geliebte haben möchte«, sagte Harrison. »Na ja, er kann es behaupten, aber es wird wohl nicht stimmen.«
    »Vermutlich möchtest du keine Geliebte, weil du verheiratet bist.«
    Harrison zögerte nicht. »Richtig.«
    Er verspürte einen leichten Faustschlag am Oberarm.
    »Branch!« sagte Jerry.
    »Hallo, Jerry.« Harrison gab ihm die Hand und bemerkte, daß Nora sich von ihm entfernte.
    »Bist du immer noch in Toronto?« fragte Jerry.
    »Ja«, antwortete Harrison, wegen Noras Rückzug nicht ganz bei der Sache.
    »Hast du mal über New York nachgedacht? Ich meine, ist das nicht das heiße Pflaster deiner Branche? Des Verlagsgeschäfts?«
    »Meine Frau ist aus Toronto«, sagte Harrison, absolut sicher, daß er und Jerry genau dieses Gespräch bereits vor fünf Jahren in New York geführt hatten.
    »Ich kenne einen Typ bei Random House, wenn du mal ein Entrée brauchst.«
    »Laß mich raten. Du hast noch etwas gut bei ihm.«
    »Der Mann hat Anfang der Neunziger mit meiner Hilfe eine Stange Geld gemacht.« Jerry nahm einen Schluck von seinem Getränk, das nach Whiskey aussah. Er trug einen teuren Kaschmirpulli, der einzige im Raum ohne Jackett.
    »Ich dachte, ich hätte eben deine Frau gesehen«, sagte Harrison.
    »Sie ist nach oben gegangen, um sich die Nase zu pudern. Sie wird gleich wieder da sein. Wer hätte gedacht, daß Nora so etwas auf die Beine stellen kann? Weißt du, wer sie finanziert?«
    »Nein«, antwortete Harrison. »Ich hatte eigentlich den Eindruck, daß sie auf eigenen Füßen steht.«
    »Die Toiletten sind Scheiße, und irgendwo hätten sie doch wohl einen Hausdiener auftreiben können. Aber die Zimmer sind in Ordnung. Da kann man nicht klagen. Sie hat sich gut gehalten, was?«
    Die unterschwellig sexistische Bemerkung ärgerte ihn für Nora. »Sie ist eine schöne Frau«, sagte er.
    »Na klar. Du hast ja immer eine Schwäche für sie gehabt«, sagte Jerry. Er trank sein Glas aus und hielt es über dem Kopf hoch, um dem Barkeeper zu signalisieren, daß er noch einen Drink haben wollte.
    »Sie war Stephens Freundin«, versetzte Harrison, dem es schwer genug fiel, den Namen laut auszusprechen.
    »Du und Steve, ihr wart doch die besten Freunde.«
    Harrison war ziemlich sicher, daß kein Mensch Stephen je Steve genannt hatte.
    »Und du warst doch dabei, stimmt’s?« sagte Jerry. »An dem Abend, als er ins Wasser gegangen ist? War das wirklich so, ist er einfach ins Wasser marschiert? Ich meine, wer würde so was tun. Das Wasser kann doch höchstens vier bis fünf Grad gehabt haben. Es heißt, daß die Hummerfischer gar nicht erst das Schwimmen lernen, weil man, wenn man in der Jahreszeit ins Wasser fällt, vielleicht ein oder zwei Minuten Zeit hat, um rauszukommen, bevor einem das Herz stehenbleibt. Schwimmen hilft da gar nichts.«
    »Ich habe es nicht gesehen«, sagte Harrison.
    »Wirklich nicht?«
    Harrison schwieg.
    »Ich meine«, sagte Jerry, »wenn du es gesehen hättest …«
    »Wenn ich gesehen hätte, daß Stephen zum Wasser geht«, sagte Harrison, so ruhig er konnte, »hätte ich ihn aufgehalten.«
    »Natürlich.« Jerry sah ihn über sein Glas hinweg an. »Fährst du morgen mit in die Outlets?« fragte er.
    »Vielleicht«, sagte Harrison.
    Jerry schaute ungeduldig zum Barkeeper hinüber. »Wer hat eigentlich gewußt, daß Bill und

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