Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Barkeeper seine Gedanken gelesen – was, vermutete Harrison, ja wohl Aufgabe von Barkeepern war –, trat er neben Harrison und fragte, was er ihm zu trinken bringen dürfe. Harrison warf einen Blick zu Agnes’ Glas. »Was trinkst du?«
»Weißwein. Erheblich besser als der, den ich sonst trinke.«
»Dann nehme ich den«, entschied er.
»Du bist Lektor«, sagte Agnes, als der Barkeeper gegangen war.
»Ja. Ich bin bei einem kleinen Verlag in Toronto. Wir publizieren vor allem Bücher von kanadischen und britischen Autoren. Audr Heinrich? Vashti Baker?«
Agnes nickte vage. »Und du hast Kinder«, sagte sie.
»Zwei Jungen. Charlie, elf, und Tom, neun.« Harrison wurde ein zart ziseliertes Glas mit kaltem Weißwein gebracht. »Nora hat mir erzählt, daß du an der Kidd unterrichtest.«
»Ich bin die, die nie gegangen ist. Du weißt doch, in jeder Klasse gibt es einen, der bleibt.«
»Wie ist es denn da jetzt so?«
»Du würdest es nicht wiedererkennen, Harrison. Sehr multikulti. Stark naturwissenschaftlich ausgerichtet. Die Häuser haben alle neue Anbauten. Ich habe eine Wohnung im Rowan House.«
»Ehrlich? Im Turm?« Harrison schickte einen schnellen Blick zu Rob und dem Mann hinüber, den er nicht kannte. Er fühlte sich nicht wohl mit seinem Schlips.
»Ganz recht«, sagte Agnes.
»Ich beneide dich. Ich wollte immer mal sehen, wie es da im Turm so ist.«
»Na ja, wenn du zufällig mal nach Osten runterkommst …«
Harrison lächelte.
»Du warst bei keinem der Klassentreffen«, sagte sie, und ihrem bestimmten und sanft vorwurfsvollen Ton entnahm er, daß Agnes bei allen gewesen war.
»Nein.«
»Die wirklich interessanten Leute kommen nie.«
Harrison trank von seinem Wein. Rob und sein Gast unterhielten sich mit Jerry und Julie, Rob elegant in einem dunkelgrauen Anzug und Hemd mit offenem Kragen. »Wer ist der Typ neben Rob?«
»Er heißt Josh. Er ist Cellist.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß Rob …«
»Nein, ich auch nicht«, sagte Agnes.
»Hat er das wohl damals an der Schule schon gewußt?« fragte Harrison, obwohl er wußte, daß ihn das nichts anging. Er versuchte, sich zu erinnern, mit welchen Mädchen Rob herumgezogen war.
»Ich denke schon«, sagte Agnes. »Nach dem, was ich gelesen habe, müßte er es, rein biologisch gesprochen, gewußt haben. Aber in der Zeit damals hätte er das natürlich nicht ausleben können. Zumindest hätte niemand etwas merken dürfen. Heute gibt es einen nationalen Lesbenund Schwulenverband. Das ist gut, und ich bin froh, daß es ihn gibt, aber ich habe Sorge, daß die ganz jungen Schüler, die gerade erst ihre Sexualität entdecken, sich zu der Gruppe hin bewegen, ehe sie sich über sich selbst im klaren sind.« Agnes richtete einen verrutschten BH-Träger unter ihrer Bluse. »Rob und Josh wollen morgen zu den Outlets fahren. Es gibt da für sie Armani-Anzüge und für mich einen von J. Crew. Vielleicht mache ich ein paar Weihnachtseinkäufe. Hast du Lust mitzukommen?«
»Danke, ja, vielleicht.«
Agnes lehnte sich ein wenig zurück und betrachtete ihn nun ebenfalls von Kopf bis Fuß. »Laß sehen, Buttondown-Hemd, blauer Blazer – Brooks Brothers, stimmt’s?«
Harrison lächelte. »Ist es so schlimm?«
Durch eine Wand oder vom Ende eines Korridors hörte Harrison das lebhafte Lärmen einer anderen Gesellschaft, eines größeren Fests, bei dem Musik gemacht wurde. Jerry, der beim Getränketisch stand, sagte zu seiner Frau: Mach doch, was du willst. Es ist mir egal.
» Wie geht es deiner Mutter?« fragte Agnes.
Die Frage überraschte Harrison. In Toronto fragte nie jemand nach seiner Mutter. Sie kannten ihn ganz einfach nicht als jemanden, der Eltern hatte. »Sie lebt immer noch in unserem alten Haus in Tinley Park, gleich außerhalb von Chicago. Meine Schwester Alison lebt in L.A. Sie ist Drehbuchautorin.«
»Ah, ja«, sagte Agnes und zog die Brauen hoch angesichts dieses unerwarteten Stückchens Glamour. »Irgendwas dabei, was ich gesehen haben könnte?«
»Als wir kürzlich in L.A. waren, arbeitete Alison an einem Film mit Ben Affleck und Morgan Freeman. Die Jungs durften zusehen, wie die Stuntmen in Sicherheitskleidung gefährliche Szenen drehten. Evelyn, meine Frau, bekam Gelegenheit, ein bißchen mit Ben Affleck zu quatschen, was für sie ein Highlight war.«
Nora, das Haar auf einer Seite hinters Ohr geschoben, sprach mit dem Barkeeper am Tisch. Harrison hatte erwartet, sie in ihrer Uniform zu sehen – Rock und dünne weiße Bluse –,
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