Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Verzweiflung?
Frisch rasiert wählte Harrison zwischen zwei Hemden. Heute abend würde er ein Sportsakko tragen, morgen seinen Anzug. Der Spiegel war wieder klar, als er ins Bad ging, um seine Krawatte zu knoten. Sah er aus wie vierundvierzig? Wie sah man mit vierundvierzig aus? Nora jedenfalls sah nicht so aus, sie hatte immer noch etwas Knabenhaftes.
Harrison vergewisserte sich, daß er seinen Schlüssel eingesteckt hatte, und ging hinaus. Sofort hörte er Stimmengewirr aus dem Vestibül. Natürlich, der Gasthof hatte ja auch noch andere Gäste – er hatte doch den Hinweis auf die Karola-Jungbacker-Hochzeit gesehen –, aber merkwürdig war es dennoch, plötzlich Stimmen zu hören, wo es zuvor so still gewesen war. Er nahm nicht den Aufzug, sondern ging die Treppe hinunter, flott, in dem Bewußtsein, daß er von jemandem gesehen werden könnte, den er kannte. Und zugleich in dem Bewußtsein, wie lächerlich es war, sich darum zu kümmern. Im Vestibül bemerkte er ein älteres Paar auf dem Weg zum Aufzug zum Speisesaal – die erste Schicht zum Abendessen, vermutete er. Ein jüngeres Paar schien unsicher, hatte wohl sein Zimmer zu früh zum Abendessen verlassen und wußte jetzt nicht, wo es sich niederlassen sollte.
Harrison ging zur Bibliothek. Die zweiflügelige Tür war geöffnet. Einen Moment blieb er stehen und hörte Stimmen. Er erkannte nur die von Bill. Als er den Raum betrat, wandten sich ihm Gesichter zu. Er bemerkte Rob Zoar im Gespräch mit einem Mann, den er nicht kannte. Rob legte dem Mann eine Hand in den Nacken und zog ihn näher, um ihm etwas zuzuflüstern. Harrison war verblüfft. War Rob etwa schwul? War er es auf der Schule schon gewesen? Hatten es die anderen gewußt? In der Ecke winkte Jerry Leyden. Agnes O’Connor kam mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Harrison hörte mehrmals seinen Namen, ein Gefühl von Licht an, Vorhang auf! ergriff ihn wie vor einer großen Versammlung.
»Harrison.«
»Agnes.«
»Mein Gott!«
»Du siehst großartig aus.«
»Du auch.«
Harrison beugte sich tiefer, um sie zu umarmen. Agnes fühlte sich noch kompakter an, als er in Erinnerung hatte (aber er selbst genauso, dachte er; er selbst genauso). Er hielt sie auf Armeslänge von sich und betrachtete ihr Gesicht. Sie schien sich ehrlich zu freuen, ihn zu sehen, reagierte leicht verschämt bei seiner Musterung. Er ließ sie los. Ihr Gesicht hatte unter den Jahren gelitten, und sie war auf eine Art gekleidet, die auf Harrison altmodisch wirkte. Eine weltliche Nonne in einem roséfarbenen Kostüm. Schon an ihrer sportlich-unbeholfenen Haltung konnte er erkennen, daß sie an elegante Kleidung nicht gewöhnt war.
»Wie geht es dir?« fragte sie.
»Gut. Und dir?«
Sie lachte und trank einen Schluck Wein. »Meinst du, das geht den ganzen Abend so?« fragte sie. »Immerzu, mein Gott – und du siehst großartig aus ?«
»Eine Weile sicher. Bei einem Klassentreffen wäre es schlimmer.«
»Das ist doch ein Klassentreffen.«
»In gewisser Weise, ja.«
»Erstaunlich, das mit Bill und Bridget«, sagte sie.
»Es hat mich überrascht.«
»Und dabei kennst du doch Bill. Ich meine, ihr seid doch in Verbindung?«
»Waren wir früher, ja. Ich kannte seine Frau – Exfrau.«
»Ich freue mich für die beiden. Sehr mutig von Bridget. Und von Bill auch.«
Neben der Tür bemerkte Harrison Nora. In der Ecke stand ein Barkeeper hinter einem mit einem Tuch bedeckten Tisch. Harrison hatte plötzlich Lust, etwas zu trinken. »Der Gasthof ist wirklich schön«, sagte er.
»Herrlicher Blick.« Sie drehten sich gemeinsam, um durch die hohen Fenster die Aussicht zu bewundern, von der bei Nacht natürlich nichts zu sehen war. »Ich kann die Verwandlung immer noch nicht fassen. Warst du früher schon mal hier?«
»Außer Bill und Jerry habe ich alle hier im Raum vor siebenundzwanzig Jahren zuletzt gesehen«, sagte Harrison.
»Ich meine – das Haus es ist nicht wiederzuerkennen.«
»Ich wußte gar nicht, daß das ein Hobby von Nora ist.«
»Wer hätte schon sagen können, was für Hobbys Nora hat.«
»Ich dachte, ihr wärt in Kontakt geblieben.«
»Das sind wir auch. Ich wollte nur sagen, daß sie so sehr im Schatten von Carl stand.«
»Sie hatte doch bestimmt ihr eigenes Leben.«
»Eigentlich nicht.«
Harrison spürte Agnes Abneigung. »Das hört sich ja nicht gerade so an, als hättest du ihn besonders gemocht.«
»Oh, mache ich tatsächlich diesen Eindruck?« fragte Agnes.
Harrison lachte. Als hätte der
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