Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
aber dies war ihr gesundes Ohr, das, mit dem sie für den Rest ihres Lebens jeden, der mit ihr sprach, »sehen« würde.
»Mr. Finch?« fragte sie.
»Ja, Louise. Innes Finch.«
»O Gott«, schrie sie auf und streckte die Arme nach ihm aus. Er erlaubte ihr, sein Gesicht und seine Haare zu betasten. Ihre Finger waren ungeschickt, ungeübt. Einen Moment schloß er die Augen.
»Sie sind alle tot«, rief sie. »Alle tot.«
»Wer ist tot, Louise?«
»Mutter. Vater. Hazel. Alle sind sie tot.«
»Woher wissen Sie das?« Innes bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben. Louise konnte nichts gesehen haben, nach dem blutdurchtränkten Verband über ihren Augen zu urteilen.
»Der Mann, der mich gefunden hat, hat es mir gesagt. Er hat gesagt, daß sie alle tot sind.« Louise begann unkontrollierbar zu zittern, und Innes neigte sich zu ihr, um sie zu halten. Ein strenger Geruch stieg vom Rücken ihrer Bluse auf. Sie hatte sich irgendwie beschmutzt.
»Schwester«, sagte Innes. »Diese Patientin muß gewaschen werden.«
»Jetzt, Sir?«
»Ja, jetzt.« Innes richtete sich auf. »Ein Bad. Dann möchte ich die Verbände abnehmen.«
»Sir, es ist zwei Uhr morgens.«
»Die Zeit interessiert mich nicht«, sagte Innes.
»Es gibt kein warmes Wasser, Sir.«
Louise hielt Innes fest. »Gehen Sie nicht fort«, rief sie. Innes nahm sie bei der Hand, als die Schwester den Stuhl zum Badezimmer rollte. Die großen Holzräder bewegten sich beinahe lautlos über das Linoleum.
»Wie kommt es, daß sie nicht gehen kann?« fragte Innes die Schwester.
»Ein Fußknöchel ist gebrochen. Zertrümmert.«
Innes hob die Decke über Louises Füßen an. Der untere Teil ihres rechten Beins steckte in einem hastig angelegten Gipsverband.
»Ich bleibe in der Nähe«, versprach er Louise. »Gleich vor der Tür, wo Sie mich hören und mit mir sprechen können.«
Er sah zu, als die Schwester Louise auf ein Feldbett half und sie auskleidete, um sie zu waschen. Der Gipsverband würde erneuert werden müssen. Er hoffte, die Knochen würden nicht neu eingerichtet werden müssen. Er wandte sich nicht ab vom Anblick ihrer Nacktheit, der kleinen weißen Brüste, des straffen Bauchs, des geschwollenen rechten Beins. Von Zeit zu Zeit rief Louise seinen Namen, und er antwortete ihr.
»Wir brauchen etwas, um die Frau zu beruhigen«, sagte er zur Schwester.
»Es gibt keine Medikamente mehr«, antwortete sie.
Als Louise gewaschen war und ein Krankenhausnachthemd übergezogen hatte, nahm Innes sie wieder bei der Hand. »Ich löse jetzt die Verbände und sehe mir Ihre Augen an«, sagte er.
»Sie tun weh«, sagte Louise, aber ihr Ton war nicht mehr so hysterisch.
Während die Schwester mit einem Becken neben ihm wartete, schob Innes so behutsam wie möglich seinen Arm um Louises Kopf und nahm den Verband ab. Die Verletzungen waren schwer. Am rechten Auge waren die meisten der äußeren Muskeln des Augapfels durchtrennt, so daß dieser aus der Höhle hervorquoll. Er würde entfernt werden müssen. Am linken Auge hatte die Hornhaut einen tiefen Schnitt davongetragen, der bis in die umliegende Haut reichte.
»Ich kann nichts sehen«, sagte Louise.
Innes wußte schon, daß sie für immer blind sein würde.
Agnes, ans Kopfbrett des Betts gelehnt, legte das Heft in ihren Schoß. Draußen schneite es. Hatte gestern abend jemand etwas von Schnee gesagt? Agnes stand auf und ging auf Strümpfen zum Fenster. Der Schnee fiel in dichten Flocken. Er war bestimmt schon acht bis zehn Zentimeter hoch. Erstaunlich! Es würde doch noch eine Winterhochzeit werden.
Agnes kreuzte die Arme über der Brust. Louise war also blind. Nun ja, so mußte es eben sein. Agnes könnte sie, schneller, als ein Satz zu Ende gesprochen war, wieder gesund machen, ihr das Augenlicht wiedergeben. Aber sie hatte es nicht vor. In Wirklichkeit war die Explosion zweifellos viel schlimmer gewesen, als Agnes sich bei allem, was sie darüber gelesen hatte, vorstellen konnte. Innes zum Beispiel könnte Louise noch mit Glassplittern in den Augen vorgefunden haben. Hätte er sie dann operiert?
Merkwürdig befriedigend diese Vorstellung: Louise für immer blind.
Und ungeheuer befriedigend allein schon, die Geschichte von Innes Finch niederschreiben zu können. Am vergangenen Abend hatte Agnes sich nur mit größter Mühe davon abhalten können, gewisse Worte einer anderen Geschichte auszusprechen, die in ihr aufgestiegen waren. Sie hatte Jims Namen erwähnt, und das war aufregend gewesen, aber nicht genug. Immerhin tröstlich zu hören,
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