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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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versorgt«, sagte sie.
»Es ist nicht meine Tochter«, sagte Innes. »Ich habe sie auf der Straße gefunden. Sie ist ganz allein dort herumgelaufen.«
»Sie spricht nicht.«
»Sie steht unter Schock«, erklärte Innes.
Ein langer Arbeitstisch, auf dem der Apotheker früher seine Arzneien zubereitet hatte, diente jetzt als eine Art Operationstisch. Innes hörte, daß der Apotheker Wunden genäht und Verbände angelegt hatte. Er löste ihn ab, verlangte Instrumente, Antiseptika und Betäubungsmittel. Der Apotheker und die Frau assistierten ihm mit ihren elementaren medizinischen Kenntnissen. Vor einer Stunde, dachte er ungläubig, hatte er bei den Frasers im Speisezimmer gefrühstückt.
Er arbeitete weiter, die Arbeit war ein Puffer gegen Angst und Ungewißheit. Er hatte keine Zeit, nachzudenken, mit den Verletzten zu sprechen oder sich Gedanken über ihr Leben vor der Explosion zu machen. Den meisten fehlten die Kleider, die vielleicht einen Aufschluß über ihre berufliche Tätigkeit und die Gesellschaftsschicht, aus der sie kamen, hätten geben können. Er entfernte Glassplitter aus Augen und Gesichtern. Er schiente gebrochene Knochen. Er nähte tiefe Schnittwunden. Seine Arbeit war provisorisch; an Instrumenten gab es nur das Nötigste. Alle Patienten müßten zur besseren Versorgung ins Krankenhaus gebracht werden, sobald ein Fahrzeug gefunden war.
Die behelfsmäßige Krankenstation war von Schreien und Stöhnen erfüllt. Als sich drüben an der Wand für die Toten kein Platz mehr fand, wurden die Leichname auf den gefrorenen Boden vor dem Haus gelegt. Männer und Frauen suchten nach Angehörigen, ein Aufschrei kündete meist davon, daß eine Suche vorüber war. Innes hörte, daß an der St. Josephsschule fünfzig Kinder ums Leben gekommen waren. In der Textilfabrik waren fast alle getötet worden. Die Explosion hatte vorübergehend das Wasser aus dem Hafenbecken gesogen. Schiffe waren in die Luft geschleudert worden.
Innes arbeitete, bis ihn Schwäche überkam. Man zwang ihn, sich zu setzen, und brachte ihm Suppe, die hinter dem Haus über offenem Feuer gekocht wurde. Es gab keinen Strom, kein Gas und kein Wasser in der Stadt. Innes dachte an die Frasers und wünschte, er könnte nach ihnen suchen. Wenn er die Explosion überlebt hatte, dann vielleicht auch sie.
Er konnte sich Hazel nicht mit zerstörtem Körper vorstellen.
Am späten Nachmittag wurde er von einem Offizier des Militärs abgelöst. Er ließ sich den Weg zum nächsten noch bestehenden Krankenhaus sagen. Dort hoffte er, Dr. Fraser zu finden und bei der Arbeit helfen zu können.
Froh, dem Gestank zu entkommen, verließ Innes das Notlazarett in der Apotheke. Aber schon nach wenigen Minuten wünschte er sich dorthin zurück. Er stieß auf die Trümmer einer Schule. Eine Frau, die ihr Hab und Gut in einem Kopfkissenbezug mit sich schleppte, schien völlig ziellos umherzuirren. Ein ganzer Häuserblock stand noch in Brand. Die merkwürdigsten Dinge lagen in Durchgängen, die einmal Straßen gewesen waren: die Achse eines Lastwagens, eine Nähmaschine, ein Spitzenkorsett, eine Brotdose. Männer zogen und zerrten an Holzbalken. Vor einem Haus, das fast unbeschädigt war, hing noch die Wäsche auf der Veranda. Ein an einen Craig Driscoll adressierter Brief klemmte zwischen zwei Holzpfosten. Innes sah Soldaten und nahm das als gutes Zeichen. Man wußte inzwischen, daß es zu der Explosion gekommen war, als die Mont Blanc , ein Munitionsfrachter, im Hafen in die Luft geflogen war. Innes erinnerte sich an die Seeleute, die in einem Rettungsboot auf dem Weg nach Dartmouth um ihr Leben gerudert waren.
Er kam in dem Krankenhaus an, zu dem man ihn gewiesen hatte, und meldete sich bei einer Schwester in blauer Bluse, weißer Trägerschürze und weißem Häubchen. Er wurde mit Erleichterung empfangen und in einen Raum geführt, wo Ärzte verbanden und operierten. Sie sahen aus wie Metzger nach einem langen Arbeitstag. Innes fragte nach Dr. Fraser, erhielt aber keine befriedigende Antwort. Er wurde gebeten, seine Kleidung abzulegen und einen Mann abzulösen, der selbst verletzt war, aber stundenlang operiert hatte. Sechzig Augäpfel hatten entfernt werden müssen, wurde Innes mitgeteilt. Er sagte nichts von seiner eigenen Verletzung.
Die Anzahl der Blinden war in der Tat erschrekkend, der Zusammenhang zwischen Neugier und Verletzung nicht zu übersehen. Später würde Innes erfahren, daß neuntausend Menschen bei der Explosion verletzt worden waren. Zweitausend

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