Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
besuchen. Ich hatte seit dem Schulabschluß unaufhörlich an Dich denken müssen, und ich glaube, ich fuhr mit dem Gedanken zur Schule, Dir das zu sagen. Aber als ich dann vor Dir stand, hat mich der Mut verlassen. Du hast mir gegenüber am Schreibtisch gesessen und mir Fragen gestellt, und ich antwortete brav, während mich die ganze Zeit nur der Gedanke beherrschte, daß ich gleich würde aufstehen und gehen müssen und sich mir nie wieder ein vernünftiger Vorwand bieten würde, Dich zu besuchen. Du wirst Dich über meine ungeschickten Antworten, meine Zerstreutheit gewundert haben. Ich war ein Nervenbündel. Wie eine Idiotin habe ich nur dagesessen, bis Du schließlich sagtest, Du müßtest zu einer Besprechung und würdest mich zum Wagen bringen.
Es war so etwas wie der letzte Gang für mich: mit schleppendem Schritt aus Deinem Zimmer hinaus und den Korridor hinunter. Ich dachte daran, irgend etwas Theatralisches zu tun, Dir um den Hals zu fallen und Dir zu sagen, daß ich Dich liebe. Ich stellte mir Dein Erschrecken vor, den Hollywood-Kuß, gefährlich und prickelnd im Schulkorridor. Aber überall waren Leute, die sich zum Aufbruch ins Wochenende bereit machten. Mr. Crospey kam aus seinem Büro, begrüßte uns und fragte mich, wie es in Mt. Holyoke gewesen sei, und ich fürchtete schon in heller Panik, Du würdest Dich entschuldigen und gehen. Ich war ihm gegenüber unhöflich kurz angebunden, aber ich konnte nicht anders. Dann sind wir beide zusammen hinausgegangen, und es war typisches Neuengland-Wetter, es hat gegraupelt, und alles war matschig.
Du hast einmal gesagt, Du hättest gedacht, ich sei absichtlich ausgerutscht. Du hast mich oft damit geneckt, weißt Du noch? Aber ich glaube nicht, daß ich absichtlich ausgerutscht bin. Ja, ich bin ganz sicher, daß es nicht so war. Ich war wacklig auf den Beinen, und ich wollte nicht gehen, das stimmt, vielleicht war das an dem Unfall schuld. Ich habe heute noch einen harten Knoten im Po – Narbengewebe, nehme ich an – von dem Sturz.
Ich weiß nicht mehr, wie Du mich zu Deinem Wagen gebracht hast. Aber ich erinnere mich an den Warteraum der Notaufnahme. Du hast meine Hand gehalten, und ich vermute, es sollte so eine Art väterlicher Trost sein. Ich hatte Schmerzen, aber sie schienen irgendwie weit weg zu sein. Statt dessen war mein ganzer Körper auf unsere Hände konzentriert. Ich wagte nicht die kleinste Bewegung, weil ich Angst hatte, dann würdest Du loslassen.
Man steckte mich in eine Kabine und schickte mich dann zum Röntgen. Ich war überzeugt, Du würdest gehen, heimfahren zu Deiner Frau und Deiner Tochter. Es war schließlich der Nachmittag vor Thanksgiving, ein sehr dummer Zeitpunkt für einen Unfall. Ich hielt meine Hand dort, wo Du sie berührt hattest, und nahm kaum den Arzt wahr, der hereinkam.
Er sagte, es sei nichts gebrochen, ich würde einen häßlichen Bluterguß bekommen, der vielleicht Monate brauchen würde, um zu vergehen, aber insgesamt hätte ich Glück gehabt.
Er riet mir, in Zukunft auf vereisten Straßen vorsichtig zu sein. Und da sah ich plötzlich Dich hinter ihm, mit offener Jacke und gelockerter Krawatte. Du hast aufmunternd gelächelt, hast dagestanden, mit den Händen in den Hüften, und hast mich angesehen. Du hast zugeschaut, wie der Arzt meinen Rock hochgehoben und meinen Schlüpfer heruntergezogen hat, um die Stelle zu untersuchen, die bei dem Sturz am meisten abbekommen hatte. Ich wußte, daß Du mich sehen konntest.
Du hast Dich nicht abgewandt. Du hast mir in den Mantel geholfen und mich den ganzen Weg bis zu Deinem Auto im Arm gehalten. Es war scheußliches Wetter, eisig und kalt. Der Schnee brannte in meinem Gesicht. Du hast mich in Deinen Wagen gesetzt und bist dann selbst eingestiegen. Ich habe gezittert, mehr vom Schock, denke ich, als infolge der Kälte. Du hast mich gegen das Zittern in den Arm genommen. »Ich bringe Sie jetzt besser zurück«, hast Du gesagt.
Dieser Kuß. Knisternd und lang, ein Kuß, der alles erlaubte. Ich erinnere mich an alles, Jim. An jeden Flug, an jede Fahrt, an jedes Hotelzimmer. Lange hatte ich sogar die einzelnen Daten im Kopf, aber die habe ich jetzt vergessen. Hätte ich nur Tagebuch geführt (all diese kostbaren Details verloren). Unsere Liebe war ein Geschöpf mit einem eigenen Leben. Es hätte aufgeschrieben werden müssen. Und ich, Agnes O’Connor, die sich ihren Lebensunterhalt mit den Geschichten anderer verdient, habe gerade die eine Geschichte, die mir das
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