Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
wie sehr die anderen ihren ehemaligen Lehrer bewundert hatten. Was hatte Jerry doch gleich gesagt? Ach ja, Mr. Mitchell, der war’s .
    Ja, dachte Agnes. Er war’s.
    Sie hatte pochende Schmerzen in einer Schläfe. Wenn sie etwas äße, Kaffee tränke, würde der Kater vielleicht weichen. Aber sie wollte sich jetzt noch nicht anziehen, und schon gar nicht wollte sie zum Frühstück die anderen sehen. Vielleicht brauchte sie nur ein Advil.
    Sie kramte in ihrem Rucksack, fand das Fläschchen mit dem Advil ganz unten, schüttete zwei Tabletten auf die offene Hand und holte sich im Bad ein Glas Wasser. Zwei Advil, und alles ist gut. Das war der Rat, den sie ihren Hockeymädchen immer gab, wenn sie über kleinere Wehwehchen klagten.
    Agnes sah flüchtig ihr Bild im Spiegel und war nicht erfreut über den Anblick, der sich ihr bot. Ihr Gesicht wirkte knochig, die Augen waren ein wenig blutunterlaufen. Das Haar war vom Liegen auf einer Seite flachgedrückt. Sie nahm den schlechten Geruch ihres Atems wahr, holte ihre Zahnpasta aus der Toilettentasche und putzte sich die Zähne. Sie wußte, daß es am vernünftigsten wäre, sich unter die Dusche zu stellen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, aber schon bei dem Gedanken daran – ihren Körper einzuseifen und abzuduschen, sich die Haare zu waschen und danach mit dem Fön zu trocknen – fühlte sie sich überfordert. Sie ließ es sein, ging ins Zimmer zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Sie starrte in das Schneetreiben hinaus.
    Was sollte sie den ganzen Tag tun? Aus dem geplanten Baseballspiel würde nichts werden. Die Outlets besuchen? Aber wären die Straßen geräumt? Schlittenfahren? Agnes stellte es sich ganz nett vor, den langen Hang vor dem Gasthof hinunterzusausen. Aber würde dieses kleine Vergnügen sie so stark ablenken wie früher die rasenden Abfahrten auf Skiern? Oder würde sie sich weiterhin vom Geist des Mannes verfolgt fühlen, der immer bei ihr war? Bei ihr und doch nicht bei ihr. Neue Unternehmungen, neue Vergnügungen konnten immer nur halb genossen werden.
    Sie legte die Hand auf die Löschunterlage auf dem Schreibtisch. Sie konnte Jim einen Brief schreiben. Ja. Das war ein Unternehmen, das schon seiner Natur nach eine Art befriedigenden Abschluß versprach. Agnes würde von Massachusetts aus schreiben. Der Brief würde nach Wisconsin reisen. Jim würde ihn aus seinem Briefkasten in der Schule nehmen. Er würde den Umschlag aufreißen. Er würde den Brief lesen. Kreislauf geschlossen.
    In der Schreibtischschublade fand Agnes die Ledermappe mit dem Briefpapier des Gasthofs. Drei große Bögen lagen darin, zwei Umschläge und eine Postkarte. Eine Postkarte würde sie natürlich nicht schicken.
    Sie griff nach dem Kugelschreiber auf dem Schreibtisch. Ihre Schrift war klein und sehr ordentlich.
    Lieber Jim,
    ich glaube, ich habe Dir vor einigen Wochen geschrieben, daß Bridget Kennedy (später Rodgers und ab morgen Ricci) Billy Ricci heiratet. Erinnerst Du Dich an sie? Sie war immer mit unserer Clique an der Kidd zusammen, und ich weiß, daß wir beide uns schon früher über sie unterhalten haben. An Billy erinnerst Du Dich natürlich aus unserem Kurs über amerikanische Literatur. Ja, genau den Kurs meine ich.
    Ich bin jetzt hier in Noras neuem Gasthof. Es ist schade, daß Du das alte Haus nie gesehen hast. Ich habe immer in einem Gästezimmer unter einem Patchworküberwurf aus Samt und Seide geschlafen. Er war ziemlich zerschlissen, aber wunderschön. Nora hat das alte Haus in einen Gasthof verwandelt, und sie hat das ganz phantastisch gemacht. Es hat sie vermutlich einen Haufen Geld gekostet. Der Gasthof ist luxuriös, eher europäisch als amerikanischer Landhausstil. Eben noch habe ich in meinem Bett gelegen und mich in den seidigen Laken geaalt. Und Dich natürlich vermißt.
    Na bitte, schon habe ich getan, was ich auf keinen Fall tun wollte. Ich wollte Dir einen Schwatzbrief schreiben und von unserem Mini-Klassentreffen erzählen. Ich wollte einen leichten Ton durchhalten. Aber das schaffe ich nicht. Du bist immer bei mir. Manchmal komme ich mir vor, als wäre mein Geliebter gestorben und ich wollte seine Erinnerung unbedingt am Leben erhalten. Von Dir getrennt zu sein ist eine besondere Art der Qual: Die Trennungen sind schrecklich, die Erinnerungen köstlich.
    Am köstlichsten sind die frühen Erinnerungen. Gestern abend mußte ich an den Tag vor Thanksgiving denken, als ich vom College zurückkam und zur Kidd gefahren bin, um Dich zu

Weitere Kostenlose Bücher