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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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überzuziehen. Sie schien ihn noch immer nicht zu hören. War sie eine Immigrantin, die kein Englisch sprach? Innes versuchte es auf französisch, aber es half nichts. Behutsam setzte er das Mädchen auf ein Stück Polsterung aus dem umgestürzten Wagen und zog ihr Strümpfe und Schuhe an. Sie waren ihr natürlich zu groß, aber fürs erste mußte es reichen.
Innes vermutete, daß das Mädchen ihm beim Anlegen eines frischen Druckverbands nicht würde helfen können. Er ließ den Lederschurz fallen, wickelte das Garn ab, faltete den Stoff vom Unterkleid der Toten zu einem Polster und drückte es auf die Wunde. Mit Hilfe seiner einen freien Hand und seiner Zähne legte er die Stoffbahn des Rocks über das Polster und knotete sie über seiner Brust so fest er konnte. Dann zog er den Lederschurz wieder über. Er half dem kleinen Mädchen auf die Füße.
»Komm«, sagte er und nahm sie wieder bei der Hand.
Innes ging mit dem Kind den Hügel hinauf, er vermutete, daß die Explosion in der Höhe nicht so verheerend gewirkt hatte.
Die Verwüstung übertraf alles, was Innes sich jemals hätte vorstellen können. Überall brannten Feuer, die ganze Stadt war von öligem schwarzem Ruß bedeckt. Stromleitungen waren gerissen, Automobile umgestürzt, in der Mitte einer Schneise, die einmal eine Straße gewesen war, lag eine Kirchturmspitze.
Innes sah enthauptete Leichname, Überlebende, die nackt umhertaumelten. Er sah einen Sessel, in dem noch ein totes Kind saß, eine Frau, die betend auf der Straße kniete. Er sah einen Mann verzweifelt in den Trümmern eines Hauses scharren und hielt an, um zu helfen, aber das Feuer im Innern tobte allzu heftig, und er mußte zurückweichen. Über ihm zeigte sich durch Ruß und Asche zaghaft eine weiße Sonne.
Wohin er auch schaute, überall sah er geschwärzte Gesichter unter versengten Haaren, Tote, die bis auf die Knochen verbrannt waren. Er stieg über einen Heizkörper hinweg, über Porzellanscherben, über einen Arm ohne Körper. Zeichen einst beschaulichen häuslichen Lebens in der Stadt – ein Strickzeug, ein unversehrter Tisch, ein Adventskranz, Bücher – lagen auf den Straßen verstreut. Innes hoffte, das kleine Mädchen an seiner Seite würde die Bilder, die jetzt auf ihrer Netzhaut entstanden, nicht behalten. Er hielt einmal an, um eine Frau mit einer schweren Nackenverletzung mit einem Fetzen Stoff aus ihrem Rock zu verbinden. Er nahm sie mit. Ein Bild, das Innes bis ins Tiefste erschütterte, war das eines Mannes, der mit dem Rücken an ein totes Pferd gelehnt saß und einen Säugling in den Armen wiegte. Am schlaff herabhängenden Köpfchen des Kindes war zu sehen, daß es tot war.
Andere Menschen stiegen mit Innes zusammen den Hügel hinauf. Die Zitadelle, eine Festung auf der Anhöhe, schien das Ziel zu sein. Innes kam an einem Faß mit einem Schiffskennzeichen vorüber, an einem Mann, der einen Fuß verloren hatte, an einem Haus, bei dem kein Stein mehr auf dem anderen stand. Er sah Dutzende von Tieren – Katzen, Hunde, Kühe –, manche tot, manche noch am Leben, aber verletzt und blutend. Nach einiger Zeit entdeckte er ein unversehrtes Gebäude – ein Wohnhaus? eine Werkstatt? ein Geschäft? –, vor dessen Tür zwei Männer standen. Sie würden ihm helfen, dachte Innes. Mindestens würden sie ihm den Weg zum nächsten Krankenhaus sagen können.
Als er sich dem Gebäude näherte, kam eine Frau mittleren Alters heraus und nahm sogleich das kleine Mädchen in ihre Obhut. »Wie heißt du, Schatz?« fragte sie. Das Mädchen antwortete nicht. Ohne ein Wort zu Innes trug die Frau das Kind in das Gebäude. Über den gesprengten Schaufenstern des Geschäfts stand Apotheke – Drogerie .
Innes ging hinein. An einer Wand lagen Leichname aufgereiht wie in einem Totenhaus – manche entstellt und verstümmelt, andere mit Gesichtern voller Glassplitter. Viele waren nur teilweise bekleidet. Die Bewohner einer ganzen Stadt, dachte Innes, waren vom feurigen Schauspiel an die Fenster gelockt und dann innerhalb eines Wimpernschlags getötet oder verwundet worden.
»Ich bin Arzt«, sagte er zum ersten Mann, der ihm begegnete. »Ich brauche einen besseren Verband für meine Verletzung und etwas zum Anziehen, dann kann ich helfen.«
Man brachte ihm ein paar Sachen und Schuhe. Er vermutete, sie stammten von den Toten, fragte aber nicht. Die Frau, die das kleine Mädchen mitgenommen hatte, wusch die Wunde in Innes’ Rücken mit Alkohol und legte einen Druckverband an. »Ihre Tochter wird

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