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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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für sich »Das Zimmer mit den vielen Betten«.
    Sie legte sich wieder hin und zog die Decke über die Schultern. Der Kopf schmerzte. Sie drehte sich auf die Seite, mit dem Gesicht zum nicht verdunkelten Fenster. Ja, vielleicht hatte sie gestern abend zu viel getrunken. Der Cognac war es, der ihr den Rest gegeben hatte. Es war dumm gewesen, nach dem Essen noch einen zu trinken, aber da war Jerry gekommen und hatte ihr das bauchige Glas hingehalten, und Agnes bekam so selten einen Drink angeboten.
    Sie wäre jetzt gern noch einmal eingeschlafen. Die Erinnerungen taten weh. Sie sagte sich, daß sie in gewisser Weise zutiefst selbstquälerisch waren. Vielleicht sollte sie sich einen Hypnotiseur suchen und alle Erinnerungen an Jim löschen lassen. War so etwas möglich? Und wenn es ihr wirklich gelang, Jim aus ihrem Leben zu löschen, was wäre dann übrig? Ein glanzloses Leben, dem das leuchtende Zentrum fehlte?
    Sie setzte sich mit einem Ruck auf und nahm am Rand ihres Gesichtsfelds wieder die merkwürdigen öligen Schlieren wahr, die in Spiralen aufzusteigen schienen. Sie mußte unbedingt zum Augenarzt gehen. Nicht sehen zu können: ein schlimmeres Schicksal konnte Agnes sich kaum vorstellen. Sie dachte an Louise, die unter ihren Verbänden blind war. Wie käme man in der Welt zurecht? Sollte sie Louises Schicksal ändern?
    Nein, dachte Agnes, während sie ihr Heft unter der Bettdecke hervorkramte. Louise würde bleiben, wie sie war.
Innes legte einen frischen Verband über Louises Verletzungen. Es war nicht wahrscheinlich, daß er sie operieren würde, wenn am Morgen die erwartete Lieferung Chloroform eintreffen sollte.
In einem Vorratsraum im Erdgeschoß konnten sich erschöpfte Ärzte ausruhen. Ein halbes Dutzend Feldbetten war dort aufgestellt worden. Männer, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, warteten darauf, daß eines frei wurde. Die Schwestern waren oben untergebracht. Selbst in der Katastrophe mußte die Form gewahrt werden. Innes fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem er aber schon nach vier Stunden geweckt wurde. Andere Ärzte wollten auch schlafen.
Drei Tage lang arbeitete Innes im Operationssaal. Material wurde per Eisenbahn aus anderen Teilen Kanadas gebracht. Boston schickte einen Lazarettzug. Tausende Obdachloser flohen vor Schneesturm und Kälte in den Schutz provisorischer Lager, während andere in Leichenhallen und Krankenhäusern nach Toten und Verwundeten suchten. In jeder freien Minute ging Innes die Listen der Opfer in den Zeitungen durch. #221. Weiblich, etwa fünfundzwanzig Jahre. Blondes Haar, blaue Augen. Französische Unterwäsche. Roséfarbene Strümpfe. #574. Verkohlte Überreste eines Erwachsenen. #371. Männlich. Ungefähr fünf Jahre alt. Gesicht entstellt. Braun gestreifter Pullover, weiße Unterhose. Bei dem Leichnam wurde ein Umschlag mit der Aufschrift »An Mr. William Finn, 45 Buckingham Street, Toronto« gefunden.
Innes las die Beschreibungen sorgfältig, suchte nach Hinweisen auf eine pfirsichfarbene Seidenbluse, einen Ring mit kleinen Diamanten. Er war überzeugt, daß Dr. Fraser und seine Frau tot waren, obwohl bisher nur der Leichnam der letzteren gefunden und identifiziert worden war. An Hazels Tod glaubte Innes nicht. Er überlegte wieder und wieder, wo sie im Moment der Explosion gewesen sein könnte. Hatte sie noch am Eßtisch gesessen? Wenn ja, so war unwahrscheinlich, daß sie den fliegenden Glassplittern der vier großen Bogenfenster entkommen war. Wenn sie aber in einem Flur im Innern des Hauses gewesen war, hatte sie es vielleicht geschafft, sich aus den Trümmern zu befreien.
Im Krankenhaus erwarb Innes sich einen Ruf als hervorragender Chirurg und stieg weit schneller auf, als ihm das als Praktikant unter Dr. Fraser möglich gewesen wäre. Es gab jetzt kein Praktikum. Stunden und Tage verflogen für Innes in einer Art Nebel der Erschöpfung. Er lebte im Krankenhaus, aß und schlief dort, weil er, wie viele vom Personal, sonst kein Zuhause hatte. Eine ganze Stadt war obdachlos.
Er war entsetzt über das Leiden in dieser Stadt. Das Bild eines feindseligen Gottes begann sich in ihm festzusetzen. Wie sonst ließ sich der Tod unschuldiger Kinder, das Leiden der Mütter erklären? Vollzählige Familien waren eine Seltenheit, beinahe aufsehenerregend. Nur flüchtigen Momenten konnte Innes einen Sinn geben – von diesem Moment konnte er vielleicht sagen, ja, das ist geschehen, oder nein, das ist nicht geschehen –, aber das Ganze entzog sich seinem

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