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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Verständnis. Die Musik, die Malerei, selbst der Krieg in Europa spielten keine Rolle mehr in seinem Denken. Das Leben bestand nur noch aus Arbeit, Essen und Schlafen. Bei Tag operierte er, und abends las er die Opferlisten. Er redete sich ein, er täte es für Louise. Tag für Tag prüfte er die Listen. #83. Weiblich. Ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Braunes Haar. Cremefarbene Leinenbluse. Schuhinnensohle trägt die Aufschrift PARIS. Bei der Toten wurde ein Trauring gefunden, der im Camp Hill abgeholt werden kann. Alte Aknenarben in der rechten Gesichtshälfte. Kaiserschnittnarbe am Unterleib.
In seinen Pausen besuchte Innes Louise, die in den zweiten Stock zu den Genesenden verlegt worden war. Louise weinte und klammerte sich an ihn. Obwohl ihr gesagt worden war, daß ihre Mutter tot war, rief sie immer noch nach ihr. Gedanken an die Zukunft versetzten sie wiederholt in Panik. Wie sollte sie weiterleben, wenn sie blind war? Sie bettelte um Heilung, fest überzeugt, die Medizin könne sie retten. Es war brutal in seiner Ironie: die Tochter eines berühmten Augenchirurgen erblindet.
Louise hatte keine Erinnerung an die Explosion. Innes fragte sie, wo sie zum Zeitpunkt der Katastrophe gewesen sei. Louise konnte ihm nichts antworten. Sie konnte ihm auch nicht sagen, wo Hazel sich aufgehalten hatte, ob sie noch im Speisezimmer gewesen war oder woanders. Innes erfuhr bald, daß es sich bei vielen Verletzten genauso verhielt. Die wenigen Augenblicke vor der Explosion waren aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
Als Innes am fünften Tag in den Krankensaal kam, fand er Louise in einem Zustand heftiger Erregung vor. Sie hatte ihren Wasserkrug umgestoßen, und ein Sanitäter war dabei, den Boden zu wischen.
»Louise«, sagte er, als er zu ihr trat. »Was ist los?«
»Sie war hier!« rief Louise. »Und ich habe ihr gesagt, daß sie jetzt alles hat. Ich habe gesagt, daß ich immer die Schönere war, daß mir jetzt aber nichts geblieben ist. Kein Zuhause. Kein Ehemann. Keine Kinder.«
»Wer war hier, Louise?« Innes setzte sich zu ihr aufs Bett. Er rieb ihren Arm, um sie zu beruhigen.
»Sie kann sehen. Sie kann gehen. Es ist gemein. Sie kann sehen, sie kann gehen, und ich nicht. Nie werde ich jetzt einen Mann finden. Wer liebt schon eine Blinde? Welcher Mann heiratet eine Frau, die seine Kinder nicht sehen kann?«
»Louise«, sagte Innes wieder. »Wer war hier? Mit wem haben Sie gesprochen?«
Louise hob den Kopf aus dem Kissen. »Hazel«, sagte sie. »Hazel war hier, und jetzt ist sie wieder fort.«
Obwohl er es erwartet hatte, traf die Erwähnung des Namens ihn wie ein Schlag. »Hat sie gesagt, wohin sie wollte?« fragte er.
»Nein«, antwortete Louise.
»Hat sie gesagt, wo sie jetzt wohnt?«
»Nein.« Louises Ton war gereizt, vielleicht hatte sie das Drängen in Innes’ Stimme gehört.
»Wurde sie verletzt?« fragte Innes. »Hat sie bei der Explosion Verletzungen erlitten?«
»Das hat sie nicht gesagt«, antwortete Louise mit deutlich ärgerlichem Unterton.
»Und Ihr Vater? Weiß sie etwas von ihm?«
»Er ist tot«, sagte Louise.
Sie begann laut zu jammern, und Innes rieb wieder ihren Arm. Er wollte sie trösten, aber es war ihm eine Qual, an ihrem Bett zu bleiben. Wenn Hazel gerade erst gegangen war, hielt sie sich vielleicht noch im Haus auf. Er sah zu dem Sanitäter hinunter, der jetzt fertig war mit dem Wischen. Als ein neuer Krug mit Wasser gebracht wurde, half er Louise beim Aufsetzen und Trinken. Er versicherte ihr, wie schon mehrmals zuvor, daß viele blinde Frauen ein erfülltes und glückliches Leben führten. Sie hatten Mann und Kinder. Es gab Schulen, wo die häuslichen Fertigkeiten erlernt und geübt werden konnten.
Aber davon wollte Louise nichts wissen.
Nach einer Weile erklärte Innes, er müsse wieder gehen. Er erkaufte sich seine Freiheit, indem er versprach, am Abend wiederzukommen und ihr aus der Zeitung vorzulesen. Sowohl der Lotse als auch der Kapitän der Mont Blanc waren verhaftet worden und würden vor Gericht gestellt werden. Das interessierte Louise. »Wenn Sie es versprechen«, sagte sie.
Innes suchte in jedem Raum und Korridor im Haus. Er lief auf die Straße hinaus, weil er glaubte, er hätte Hazel um Sekunden verpaßt, würde draußen ihre schlanke Gestalt davongehen sehen. Er beschrieb Hazel den Schwestern. Sie schüttelten alle den Kopf.
In seiner Essenspause am Abend suchte Innes in den Straßen rund um das Krankenhaus. Logische Überlegung sagte ihm, daß er Hazel auf diesen Wanderungen nicht

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