Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
finden würde, aber nun, da er wußte, daß sie am Leben war, konnte er nicht anders, als sie suchen. Widerstrebend kehrte er am Abend ins Krankenhaus zurück, um Louise wie versprochen vorzulesen. Er hätte ihr gern noch mehr Fragen gestellt, aber er wußte, daß sie das nur aufregen würde.
Am folgenden Tag ging Innes, als er zwei Stunden für sich hatte, zuerst zum Camp Hill Krankenhaus und dann zum Lazarettzug aus Boston. Er suchte in Krankensälen und Waggons, ohne jemanden zu sehen, der auch nur Ähnlichkeit mit Hazel hatte. Er zog Erkundigungen ein, ohne Auskünfte zu erhalten. Hatte Hazel vielleicht die Stadt verlassen? War sie landeinwärts gezogen? Oder war sie einfach bei Freunden in einem Teil der Stadt untergekommen, der unbeschädigt geblieben war?
Innes faßte einen Plan. Er würde jeden Winkel der Stadt durchsuchen, bis er sicher sein konnte, daß Hazel nicht in Halifax war. Diese Aufgabe zu erledigen schien ihm oberstes Gebot.
Als die zwei Stunden um waren, kehrte er zu seiner Nachmittagsschicht ins Krankenhaus zurück. Er hängte seinen Mantel in der Garderobe auf. Erst am Tag zuvor hatte er tief in der Tasche des Mantels eine auf einen M. Jean LeBlanc ausgestellte Quittung für eine Lampe gefunden. Vermutlich hatte der Mantel, den er jetzt trug, einmal M. LeBlanc gehört. Er fragte sich, wessen Schuhe er anhatte. Wessen Jackett.
Die Zahl der Operationen wurde nicht geringer. In den letzten Tagen waren hauptsächlich Nachoperationen notwendig geworden, nachdem man mit den ersten Eingriffen zunächst nur Leben zu retten versucht hatte. Innes korrigierte grobe Arbeit, zum Teil auch von seiner eigenen Hand. Er besuchte seine Patienten, von denen die meisten im ersten Stockwerk untergebracht waren. In den Sälen roch es nicht mehr nach Asche und Tod wie am ersten Tag, als Innes gekommen war. Es lagen keine Patienten mehr auf dem Boden zwischen den Betten. In den oberen Stockwerken wurden Patienten länger als notwendig behalten, einfach weil sie, wie er selbst, nicht wußten, wohin. Hunderte von Kindern hatten ihre Eltern verloren.
Gelegentlich gab es Augenblicke des Glücks, wenn Angehörige einer Familie einander wiederfanden. Freudenschreie, eine Seltenheit, veranlaßten Ärzte und Schwestern, von ihrer Arbeit aufzusehen und nach der Quelle des Jubels zu suchen. Erst an diesem Morgen hatte ein Vater seine verloren geglaubte Tochter wiedergefunden. Die Freude hatte sich allerdings in Schmerz gewandelt, als der Vater seiner Tochter sagen mußte, daß ihre Mutter tot war.
Innes dachte an seinen Bruder Martin, der noch in Frankreich war. Er stellte sich vor, wie viele Soldaten auf Transportschiffen nach Hause kommen und Halifax zu einem großen Teil zerstört vorfinden würden. Auch das brutal in seiner Ironie: Die Soldaten kamen unversehrt aus dem Krieg, und die Familien, die zu Hause gewartet hatten, waren umgekommen.
Innes, der auf dem Weg in den ersten Stock ein Krankenblatt überflog, fiel eine Frau auf, die auf der anderen Seite einer offenen Tür an einem Bett stand. Er blieb stehen, um sie genauer zu betrachten. Er hatte in den vergangenen Tagen mehrmals fremde Frauen mit Hazel verwechselt, war einmal sogar einer Frau nachgelaufen, die von hinten Hazel sehr ähnlich gewesen war, und hatte sie angesprochen, nur um dann festzustellen, daß sie überhaupt nicht wie Hazel aussah. Solche Szenen, hatte er sich in dem Moment gedacht, spielten sich wahrscheinlich pausenlos überall in der Stadt ab.
Mit dem Hefter unter dem Arm trat er in den Saal. Die Frau konnte er nicht sehen, und er unterdrückte den Impuls zu rufen. Er wollte sie nicht erschrecken. Sie war im Gespräch mit einer Patientin, die eine Klappe über dem linken Auge trug. Die Frau, die wie Hazel aussah, in einem grauen Wollkleid mit der üblichen weißen Trägerschürze darüber, führte einen Löffel zum Mund der im Bett sitzenden Patientin. Innes warf einen Blick auf die Hände der Patientin und sah die Verbände. Vielleicht hatte die Frau bei der Explosion Verbrennungen erlitten.
Er wartete, tat so, als läse er in seiner Akte. Er sah nichts als den Namen Ferguson. Eine Schwester fragte ihn, ob er Hilfe brauche. Er schüttelte den Kopf. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er trat auf die am Bett stehende Frau zu und räusperte sich. »Miss Fraser?«
Mit dem Löffel in der Hand drehte Hazel sich um. »Mr. Finch«, sagte sie, und er sah ihr an, daß sie sehr überrascht war.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte Innes mit
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