Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
würde. »Ich muß gehen«, sagte sie, als wäre der Kuß nur einer von vielen Teilen ihres langen und geschäftigen Tages, und setzte ihren Hut auf. »Ich muß an der verabredeten Stelle warten, wenn mein Onkel kommt. Es wäre umständlich für ihn, aussteigen und mich drinnen erst suchen zu müssen.«
»Hazel«, sagte Innes. »Bitte!«
Hazel schüttelte den Kopf. Sie hob die Hände vor die Augen, als wollte sie seinen Anblick ausblenden. »Das ist schwer«, sagte sie.
Innes wollte ihre Schulter fassen, aber sie hatte sich schon abgewandt. Sie rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er sah ihr nach, bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Er stieß einen Laut aus, der eine Mischung aus Schmerz und Enttäuschung war. Er wußte, daß seine Stimme weit tragen würde.
Innes kehrte zur Nachtschicht ins Krankenhaus zurück. Die Gelegenheit, etwas zu essen, hatte er natürlich vergeben. Eine tiefe Müdigkeit, die er bisher abgewehrt hatte, überwältigte ihn jetzt, und er tat seine Arbeit wie betäubt. Ein Kollege fragte ihn, ob es ihm nicht gut gehe. Innes antwortete, er sei müde, aber das seien alle anderen auch. Der Kollege stimmte nickend zu.
Innes arbeitete, bis die Schicht um war. Aber trotz seiner Erschöpfung ging er danach nicht in sein Zimmer, sondern in den zweiten Stock hinauf. Er wußte, daß es ein Versuch war, Hazel noch einen Moment bei sich zu behalten. In Louise würde er vielleicht ihre Schwester sehen. Die Hände in den Taschen, drückte er die Tür zum Saal mit der Schulter auf. Drinnen blieb er stehen.
Louise saß in ihrem Rollstuhl beim Schein einer Lampe in einer Ecke. Es wunderte Innes, daß sie nicht im Bett war. Er hatte sich nicht bemerkbar machen, hatte sie nur im Schlaf betrachten wollen. Noch überraschender war die tiefe Ruhe ihrer Haltung. Sie saß aufrecht in ihrem Stuhl, das Gesicht nach vorn gerichtet, als könnte sie sehen. Das, was von ihren Gesichtszügen zu erkennen war, wirkte unnatürlich still. Er fragte sich, ob man Louise Opiate gegeben hatte, und wenn ja, warum. Leise, um nicht von ihr gehört zu werden, ging er einige Schritte näher. Als er noch etwa sechs Meter von ihr entfernt war, erkannte er erstaunt, daß sie weinte. Sie war sehr ruhig, aber sie weinte.
Er erinnerte sich der kleinen weißen Brüste, des straffen Bauchs. Er dachte an seine Mutter, die fast blind gewesen war und ihn oft gebraucht hatte.
Er ging noch einen Schritt weiter und stieß gegen einen Servierwagen aus Metall. Das Scheppern schallte durch den Saal, und Louise drehte sich in seine Richtung.
HARRISON , der nicht hatte schlafen können, obwohl er so spät zu Bett gegangen war, betrat als erster den Speisesaal. Er nahm sich die New York Times , die auf einem niedrigen Tisch lag, und wurde zu einem Platz am Fenster geführt. Draußen zeigte sich eine ganz andere Landschaft als am Tag zuvor: nicht blaue Berge in der Ferne, sondern weißes Schneegestöber, das sehr viel dichter war als noch vor wenigen Stunden. Die Straßen würden schlecht befahrbar sein, und er fragte sich, ob Bridgets Angehörige, die heute ankommen sollten, es überhaupt zur Trauung schaffen würden. Er hatte keine Wettervorhersage gesehen. Vielleicht würde es ja bald aufhören zu schneien.
Er brauchte Kaffee und ein großes Frühstück. Die Kopfschmerzen, zunächst nur als Anflug vorhanden, hatten sich jetzt hinter der Stirn festgesetzt. Er warf einen Blick auf die Schlagzeile: TALIBAN RÄUMEN LETZTE BASTION: OMAR NICHT GEFUNDEN. Er blätterte zu der Seite, auf der die Times weiterhin ihre Portraits of Grief veröffentlichte, die Kurzbiographien der Menschen, die im World Trade Center ihr Leben verloren hatten. Er las von einem Mann, der an der Wharton School der University of Pennsylvania studiert und ein mathematisches Modell zur Analyse der Ertragskurve aufgestellt hatte. Er las von einem anderen Mann, der abends in Spazzios Restaurant in der Columbus Avenue gearbeitet und vor kurzem ein Haus in Union City, New Jersey, gekauft hatte. Harrison versuchte, wie er das immer wieder tat, sich vorzustellen, wie es gewesen war, in dem Gebäude eingesperrt zu sein, zu wissen, daß man sterben würde. Das fliegende Glas und die blockierten Gänge. Die vorrückenden Flammen und der erstickende Rauch. Die menschlichen Körper, die sich in den Fensterrahmen stapelten, und die Handyanrufe bei Angehörigen – zuerst Hilferufe, dann Abschiedsworte. Die Angst mußte unerträglich gewesen sein. Diese Bilder führten Harrison zu
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