Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
das Software-Geschäft?« fragte Harrison.
»Wir stehen mit einer Firma in Boston in Verhandlung, die von uns Gesichtserkennungs-Software haben will. Für Orte wie Logan.«
»Hoffentlich macht euch da nicht die Bürgerrechtsunion einen Strich durch die Rechnung«, meinte Harrison.
»Ich glaube, das Klima hat sich geändert. Und wie läuft es bei dir?«
»Nicht toll. Irgend jemand – ich weiß nicht mehr, wer – hat gesagt, es wäre ungefähr so, als hätten Gott oder der mächtigste Banker der Welt auf den ›Pause‹-Knopf gedrückt.«
»Was in New York passiert, hat Einfluß darauf, was in Toronto passiert.«
»Absolut«, bestätigte Harrison. Er hatte eine Frage an Bill, war sich aber nicht sicher, ob er sie stellen sollte. »Du und Jerry seid anscheinend Freunde geblieben«, sagte er vorsichtig. »Es hat mich ein bißchen gewundert, ihn hier zu sehen.«
»Er spendet einen Haufen Geld für eine wohltätige Einrichtung, die ich in Boston leite«, sagte Bill.
Im Strandhaus, fiel Harrison plötzlich ein, hatte Jerry alle zu Pizza einladen wollen.
»Was läuft denn zwischen euch beiden?« fragte Bill.
»Ich weiß auch nicht«, antwortete Harrison. »Nichts eigentlich.«
Bill stand auf. »Ich hole mir noch ein paar Erdbeeren.«
Harrison sah ihm nach, als er zum Buffet ging. Er dachte über das Gesetz der verpaßten Gelegenheiten nach. Was wäre gewesen, wenn er sich nicht für Französische Lyrik des achtzehnten Jahrhunderts eingeschrieben hätte, wenn er an jenem Morgen im Oktober nicht zu spät zum Unterricht gekommen wäre und deshalb in der letzten Reihe neben einer hübschen Blondine im weißen Rolli gesessen hätte? Dann hätte er Evelyn nicht kennengelernt. Hätte er vielleicht am nächsten Abend oder eine Woche später eine andere Frau kennengelernt? Und wie hätte sie ausgesehen? Hätte er dann jetzt vielleicht Töchter und keine Söhne? Oder hätte er sich vielleicht entschlossen auf die Suche nach Nora begeben, obwohl sie bereits verheiratet war? Harrison hatte noch studiert, als er hörte, daß sie und Carl Laski zusammen waren. Er erinnerte sich an seine ungläubige Überraschung und an die nachfolgende tiefe Enttäuschung. Es war, als wäre plötzlich ein Graben rund um Nora gezogen worden. Mit jemandem wie Carl Laski konnte man nicht konkurrieren. Obwohl Harrison Nora seit dem Abend im Strandhaus nicht mehr gesprochen hatte, war sie immer in seinen Gedanken, und er stellte sich manchmal vor, er würde in sein Auto steigen und nach New York fahren, um sie zu sehen. In den ersten Jahren, nachdem er erfahren hatte, daß Nora Laski geheiratet hatte, stellte er Mutmaßungen über Noras Leben an. Was es an Glanz und Prestige bedeutete, mit einem berühmten Mann verheiratet zu sein. Dann hatte er beim Verlag angefangen, und der Tratsch war ihm zu Ohren gekommen: Laskis misanthropisches Eremitenleben, die Geschichten über seine Alkoholexzesse. Ihm schien, daß Nora in ein fremdes Land ausgewandert war, zu dem er keinen Paß hatte; daß sie eine fremde Sprache sprach.
Bill kam ohne Erdbeeren zum Tisch zurück. »Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte er. »Ich schaue lieber mal nach Bridget und bestelle ihr etwas beim Zimmer-Service. Verwöhne die Ehefrau in spe ein bißchen.«
»Wie es sich gehört«, sagte Harrison.
Die Bibliothek war leer, die Espressomaschine eingeschaltet, als er mit der Zeitung unter dem Arm eintrat. Er drückte den, wie er hoffte, richtigen Knopf und erhielt eine halbe Tasse Espresso – eine ungeheuer befriedigende Operation. Er machte es sich auf dem Sofa bequem, auf dem er am Vortag beim Kaffee mit Nora gesessen hatte. Als er zum Fenster hinausschaute, sah er, daß es beinahe ganz aufgehört hatte zu schneien. Eine schwache Sonne leuchtete durch eine Schicht beinahe transparenter Wolken.
Einen Moment lang blieb Harrison einfach so sitzen, mit der Kaffeetasse in der Hand, noch nicht bereit, die Zeitung aufzuschlagen. Er beobachtete, wie das Licht langsam hinter den dünner werdenden Wolken hervorkam, wie die schneebedeckten Büsche und Bäume zu glitzern begannen. Er hatte noch nicht einmal seinen Espresso ausgetrunken, da war das Licht draußen schon blendend geworden. Harrison schloß kurz die Augen.
Wie einen dunklen Schatten vor hellem Hintergrund – wie auf einem fotografischen Negativ – sah er Nora, wie sie in jenem Frühling an der Kidd gewesen war und später, nach dem Sommer, in ihrem letzten Schuljahr: Ein Mädchen in schmalen Jeans mit lang
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