Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Jerry, der gestern abend beim Essen so erregt darauf bestanden hatte, daß diejenigen, die die Katastrophe nicht in unmittelbarer Nähe miterlebt hatten, wenig Recht hatten, darüber zu sprechen. In gewisser Weise stimmte Harrison ihm zu. Es mußte grauenvoll gewesen sein, Menschen aus den Türmen stürzen zu sehen und später die Asche einatmen zu müssen. Die Menschen waren buchstäblich gezwungen worden, sie aufzunehmen, sie zu absorbieren, eine einzigartige Form der Inbesitznahme. Hätte nicht gerade Jerry dieses Argument genannt, hätte Harrison es unterstützt, aber schon Jerrys Ton – ja, allein seine Anwesenheit – reizte Harrison bis aufs Blut. Er mochte den Mann nicht, obwohl er den Jungen ganz gern gehabt hatte. Jerry war schon in der Schule ein kleiner Angeber gewesen, aber damals hatte es eher komisch als ärgerlich gewirkt. Und natürlich konnte der Kerl werfen wie ein junger Gott.
Eine Bedienung, nicht Judy, teilte Harrison mit, daß es am Samstagmorgen ein Frühstücksbuffet gab. Harrison könne natürlich à la carte bestellen, wenn er wolle, aber das Angebot, sagte sie in vertraulichem Ton, sei wirklich nicht schlecht. Sie schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein, der schwach war im Vergleich zu dem Espresso aus der Bibliothek. Nach dem Frühstück, beschloß Harrison, würde er hinübergehen und bei einer zweiten Tasse Kaffee die Zeitung lesen. Er hatte mit seinen Bemühungen, an einem fremden Frühstückstisch die Zeitung zu lesen, nie viel Erfolg gehabt – kein Platz, um sich auszubreiten.
Er ging zum Buffet. Er nahm sich Spiegeleier, gut durchgebratenen Schinkenspeck, ein Schälchen Erdbeeren (er konnte es sich nicht verkneifen, nach einer Fliege zu suchen) und ein Karottenmuffin. Wenn das die Kopfschmerzen nicht vertrieb, würde gar nichts helfen. Als er zu seinem Tisch zurückging, sah er Bill an der Tür.
»Bill!« rief er in diesem unnötig lauten Ton, den Männer gern anschlagen, wenn sie einander begrüßen.
»Harrison«, sagte Bill. Er ging auf ihn zu und musterte seinen Teller. »Sieht gut aus. Sieht wirklich gut aus.«
Harrison wies, mit der Erdbeerschale in der Hand, zu seinem Tisch am Fenster. »Ich sitze da drüben.«
»Ich komme gleich nach. Muß mir nur erst meine Tagesdosis Cholesterin holen.«
Harrison stellte Teller und Schälchen auf den Tisch. Er legte die Zeitung zusammen und schob sie in den Spalt zwischen seinem Stuhl und der Wand. Ein paar Minuten später setzte sich Bill, in kariertem Hemd und grauem Pullunder, Harrison gegenüber. Dieser bemerkte einen leichten Bauchansatz unter dem Pullunder und wie das stahlgraue Haar (Eisenspäne auf einem Kopf, der langsam kahl wurde) zurückging, was jetzt, im Morgenlicht, deutlicher zu erkennen war als am Abend bei der Cocktail-Party. Bill hatte sich nur Beeren genommen.
»Und wo ist das Cholesterin?« fragte Harrison.
»Ich muß abnehmen.«
»An deinem Hochzeitstag?«
»Sonst paßt mir der Smoking nicht.«
»Bißchen spät.«
»Ich faste fürs Abendessen«, erklärte Bill. »Du solltest das Menü sehen. Und die Weine.« Bill schlug sich wie ungläubig mit der Hand vor die Stirn. »Ich bin froh, daß ich es gestern abend nicht zu toll getrieben habe. Ein Kater würde mir heute gerade noch fehlen.«
»Keine Sorge«, sagte Harrison, »ich habe einen Kater, der für uns beide reicht. Wie geht es Bridget?«
»Bestens.« Bill hielt inne. »Bestens«, wiederholte er. »Sie schläft jetzt. Die Jungs stehen bestimmt nicht vor Mittag auf, wenn ich sie nicht wecke.« Bill schaute zum Fenster hinaus. »Da werden wir wohl heute nicht spielen können, die Jungs haben sich darauf gefreut. Sie mußten sich seit Wochen meine Schwärmereien von unserer alten Mannschaft anhören. Du, Jerry und Rob, seid bereits zu Ikonen geworden.«
Harrison lachte.
»Im Ernst. Ihr müßt auf jeden Fall eure Unterschrift auf zwei Bälle setzen, die ich für Matt und Brian mitgebracht habe.«
»Na klar«, sagte Harrison. »Ich unterschreibe mit ›Nomar‹.«
»Bridget geht es erstaunlich gut«, sagte Bill und spießte eine Erdbeere auf. »Es heißt, je schlimmer die Chemo, desto besser die Wirkung. Es war wirklich brutal, mit anzusehen, was sie durchmachen mußte. Ich habe mir immer nur gewünscht, ich könnte es ihr abnehmen.«
Harrison lehnte sich zurück. »Billy Ricci. Ich würde sagen, das ist wahre Liebe.«
»Später einmal wird man die Chemotherapie als barbarisch und unmenschlich betrachten, eine legalisierte Form von Folter. Bestenfalls
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